Oper in Wien, Dominik Troger

Der Zirkus ist eine Welt im kleinen, Mensch und Tier, Direktor und Clown, festgeschriebene Rollen und mögliche Transformationen: im neuesten Musiktheaterwerk von Jury Everhartz kommt der Zirkus in die Oper (oder die Oper in den Zirkus).

Jeder „Circus“ hat sein Personal und seine Attraktionen: Neben dem Direktor und seiner allegorischen Assistentin (der Kleinen Zuversicht) machen eine Hochseilartistin, eine Bärtige Dame, ein Clown und ein Dompteur die Sache unter sich aus. Diese vier Personen repräsentieren zugleich vier Zirkustiere: Tigerin, Affe, Elefant und Bär. Die Handlung beginnt mit dem Diebstahl der Zirkuskassa durch den Dompteur und endet nach recht kurzweiligen, knappen zweieinhalb Stunden (inklusive einer längeren Pause) in einem existentiellen Furioso gegenseitiger Anschuldigungen und Bedrohungen, dem nur der Zirkusdirektor höchstpersönlich ein Ende bereiten kann.

Das durchkomponierte Werk wechselt zwischen mehr rezitativartigen Teilen und eingelegten Solonummern, in denen beispielsweise jedes Tier seine eigene „Arie“ hat. Ein kleines Orchester liefert dazu einen etwas verfremdeten „Zirkussound“, der das Ganze umhüllt wie ein virtuelles Zelt. Diese Hülle ist aber durchaus ornamental gestaltet – und was sich oberflächlich als hintergrundrauschende Gebrauchsmusik eines unermüdlichen Zirkusorchesters gibt, holt immer wieder aus zu hübschen instrumentellen Details, musikhistorischen Anklängen (ohne dabei aufdringlich zu wirken) oder kommentiert mit Ironie den Text. Dieser „zirkushafte Gebrauchscharakter“ spielt zum Beispiel auch in die Arien hinein, die teils mit Refrainzeilen versehen, etwas von Couplets an sich haben – ohne dabei wirklich welche zu sein. Im Lied (oder in der Arie) des Clowns zum Beispiel wird das Prinzip der Wiederholung sogar bis zur Erschöpfung durchgezogen und sie wird zum Ausdruck seiner Verzweiflung.

Aus diesen skizzenhaften Anmerkungen lässt sich erschließen, dass die Welt des „Circus“ eine Doppelbödigkeit besitzt, die in der Doppelwesenheit der vier ZirkusmitarbeiterInnen seine Entsprechung hat. Die Verwandlung von Menschen in Tiere und von Tieren in Menschen hat etwas Mythisches an sich oder ermöglicht zumindest die Bloßlegung charakterlicher Zuschreibungen. Doch wenn am Schluss „der Affe Olga“ die Verwandschaft von Tier und Mensch besingt – dann wird das Publikum dazu eingeladen, sich in den Spiegel zu schauen (wobei Olga das menschliche Potential zur Selbsterkenntnis nicht sehr hoch ansetzt: „Urwald bleibt Urwald (...) und euer feines Kostüm platzt aus allen Nähten.“). Die Zirkusmanege wird zum Schauplatz menschlichen Ringens um Würde, Liebe, Zuneigung, um ein gesichertes Auskommen. Der Zirkusdirektor verkörpert eine Despotie der Sachzwänge – nur die Kleine Zuversicht, die meistens stumm dem Zirkusdirektor assistiert, bewahrt sich die Hoffnung auf ein menschenwürdiges Dasein, auf eine „Zauberei“, die alles „gut“ macht.

Die Handlung verliert trotz Turbulenzen nicht den roten Faden, obwohl das Gewebe nicht ganz fest gezurrt und in die Nummernfolge einer Zirkusvorstellung eingebettet ist. Dabei bricht sich die vorgespielte „heile“ Zirkuswelt am persönlichen Schicksal der handelnden Personen, und so manches Ornament am Zeltdach entpuppt sich als größerer Riss, der nur notdürftig zugeflickt worden ist. Für eine bühnengemäße Umsetzung ist es deshalb wichtig, „Sein und Schein“ geschickt miteinander zu verbinden, was szenisch bestens gelöst wurde. Auf einer großen runden Scheibe, „der Manege“, spielte sich das Geschehen ab, dahinter ein Vorhang aus goldenem Lametta. Die Kostüme waren zirkusgerecht und viele Pointen in der Bühnenaktion spielten mit diesem Genre. Bei den „Arien“ wurde immer wieder diese „Zirkushülle“ durchstoßen, etwa wenn sich die bärtige Dame nach einer „Enthaarung“ sehnt, mit traurig machendem Striptease, oder wenn die Seiltänzerin vom Seil fällt, der Clown – wie schon erwähnt – sich in einer Endlosschleife eines scherzhaften Liedes fängt. Daraus erwuchsen einprägsame Bühnenmomente, abrupte Stimmungsumschwünge, die die heile Zirkuswelt unterminierten.

Von den sehr engagiert agierenden SängerInnen und vom nicht minder einsatzfreudigen Orchester hätte ich mir etwas mehr Detailschärfe gewünscht, etwa die Wortdeutlichkeit betreffend oder das Herausheben der eingestreuten Refrainzeilen. Doch die akustische Situation war insgesamt etwas problematisch: Das Orchester war seitlich neben der Spielfläche positioniert, links vor dem Publikum. Die SängerInnen standen zwar direkt vor den leicht ansteigenden Sitzreihen, trotzdem klang mir das Orchester in dieser Konstellation zu dominant. (Das Bühnenniveau war auf das Niveau des Zuschauerraums gesenkt worden, gespielt wurde vor der Bühne, der Bühnenbereich wurde von dem Lamettavorhang abgeteilt. Die Dirigentin konnte die Sängerinnen nicht sehen, ihre Zeichengebung wurde auf Bildschirme übertragen.) Vom SängerInnenteam hat Maida Karisik wohl die differenzierteste Leistung geboten, voll sehnsüchtig-trauriger Erotik beim „Striptease der Bärtigen Dame“ und mit herausforderndem Schwung in der Schlusssnummer: „Das Lied des Affen“.

Die Aufführung wurde von der kargen Besucherschar reichlich beklatscht (nicht nur wegen des großes Gratis-Salzbrezels in der Pause. ;-) Der Kauf eines Programmheftes ist wegen des abgedruckten Librettos empfehlenswert.

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