Heinz Rögl im Gespräch mit René Clemencic

Heinz Rögl: Wir sollten in unserem Interview für das mica über ihr weltweit erfolgreiches Ensemble reden und darüber, wie alles begann. Natürlich besonders über Ihre eigenen Werke. Aber jetzt zuerst bin ich auf die Wiederaufführung ihres in hebräischer Sprache geschriebenen Oratoriums “Kabbala” neugierig: Wie sind Sie auf die Kabbala gestossen und was bedeutet diese Überlieferung und Niederschrift nicht nur für jüdische Religion und Kultur?

René Clemencic: Zunächst: Das hätte bereits 2008 noch einmal in Wien gespielt werden sollen, aber der Termin war ungünstig wegen der Fußball-Europameisterschaft. Es gibt sogar schon von Frederick Baker einen mit einem Wiener Rabbi und mir in London gedrehten Film über die “Kabbala”. Der Titel des Oratoriums lautet vollständig: “Kabbala oder die vertauschten Schlüssel zu den 600.000 Gemächern des Schlosses”. Die Kabbala ist an sich dem Wort nach nur die Überlieferung. Man versteht darunter die biblische Überlieferung zuerst  in mündlicher Form. Nicht nur die schriftliche, die jeder kennt, die sondern die mündliche, die im Mittelalter zum Teil auch aufgeschrieben wurde. Eigentlich ist es die hebräische Mystik.

Ist das in der jüdischen Religion von Schriftgelehrten auch manchmal als nicht zuverlässige Kommentierung und Auslegung betrachtet worden?

Das ist so wie mit jeder Mystik in der ganzen Welt, ob das nun der Sufismus im Islam ist oder die christliche Mystik, ein Meister Eckhart. Die sind auch von der offiziellen Auslegung immer wieder ein bisserl angefeindet worden.

Sie mussten ja Hebräisch lesen und sprechen können um die Kabbala überhaupt deuten und verstehen zu können?

(Lacht). Jetzt einigermaßen. Beim Festival in Cividale – dieser alten schönen Langobardenstadt in der Nähe von Udine - sagte mir der Leiter: "Pass auf, wir machen nächstes Jahr ein auf Kafka ausgerichtetes Festival, u. a. mit George Tabori, könntest du da musikalisch etwas beisteuern?" Kafka ist ja aus Prag, einer auch sehr mystisch geprägten Stadt. Da kam mir das Wort Kabbala und ich wollte präziser wissen, was da dahinter steht. Ich hatte einmal ein Buch von Gershon Scholem darüber geschenkt bekommen, das hatte ich noch nie gelesen. Ich schlag´s auf und das erste Wort, das ich les’, ist “Kafka”. Und das “Schloss mit unendlich vielen Gemächern” habe ich aus einem Disput eines jüdischen mit einem christlichen Theologen bei der Erklärung der Kabbala. Vor jeder Tür liegt ein Schlüssel, in der Summe passen alle, aber es sind alle vertauscht.

[Anmerkung hr: Karl Erich Grözinger weist unter anderem an der Fabel des Prozess-Romans nach, dass dieser in seiner Dramaturgie den kabbalistischen Predigten zu den Hohen Jüdischen Herbstfeiertagen entspricht und eine Fülle von Themen und Formulierungen aus diesen traditionellen jüdischen Reden aufgreift. Die Bedeutung des Gerichts, die Rolle der Frauen, die seltsamen Tiere und Zwitterwesen, die Macht des Wortes und der verurteilenden Sprache, das Gesicht des Menschen als Spiegel seines Schicksals – all dies sind Motive der kabbalistischen Theologie und der ihr entsprungenen chassidischen Erzählung, an die sich Kafka anschliesst, wenn auch in moderner Diktion und Denkweise eines entwurzelten westeuropäischen Diasporajuden. (Buchbeschreibung Grözinger, “Kafka und die Kabbala“, EVA 2002)].

Scholem sieht das auch so, und ich habe Kafka auch immer als umgekehrten Mystiker des Negativen empfunden, einen der Verzweiflung, der Hilflosigkeit. Beim “Kabbala”-Vorschlag für Cividale argumentierte ich in etwa so, und sagte dem Direktor auch, das Oratorium wird in meiner und der Sprache Kafkas abgefasst werden, auf Deutsch. Ich hatte etwa ein Jahr Zeit, wollte mich einlesen in die Kabbala und bin schon nach einigen Wochen draufgekommen, dass ohne wenigstens rudimentäre Kenntnisse des Hebräischen nichts zu machen ist. Begann ganz allein für mich Hebräisch zu lernen, Wort für Wort, die Buchstaben habe ich mir zuerst gelernt. Alles war eine unglaubliche Plagerei, aber es hat sich gelohnt. Und dann war klar, dass auch die Sprache des Oratoriums Hebräisch sein muss. Bei einer Aufführung sollte man die Übersetzung mitlesen. Ich habe seit der Zeit bis zum heutigen Tag nicht aufgehört, täglich Hebräisch zu lesen, es ist ja eine der menschlichen Ursprachen. Jeder der 22 Buchstaben ist auch eine Zahl, Wörter sind Zahlensummen, und da ergibt sich plötzlich, dass “Messias” und “Schlange” die gleichen Zahlensummen haben. Jedes Wort, jede Wortverbindung - das geht von der Bedeutung her ins in Uferlose, die Mystiker sehen in diesen Deutungen und Übungen, die sie anstellen, darin die Reinigung des Geistes, die Befreiung von einer rein kausalen Logik. Daher gibt es auch Vokalpermutationen. Die gibt  es auch in meinem Oratorium. Mit dem Tetragrammaton als Teil I (die Buchstaben, die das Wort “Gott” ergeben), oder der Meditation über den Anfang des grossen Gottesnamens (Teil V) oder in den “22 heiligen Buchstaben” (im Teil IV, wo jeder Buchstabe mit jedem kombiniert wird). Oder Teil VII (“Die 72 Buchstabentriaden”). Die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets sind ja nur Konsonanten.

Nun zur Besetzung: 2 Contratenöre, 2 Tenöre, Bassbariton, Trompete, 3 Posaunen, 2 Schlagzeuger?

Blech und Schlagzeuger können auch “Krach” machen. Man muss schon was hinstellen.

Wie kam es eigentlich dazu, dass mit ihren Besetzungen für Alte Musik auch möglich wurde, Neue Musik aufzuführen?

Das hängt auch wieder mit einem scheinbaren Zufall zusammen. Schon vor Jahrzehnten rief mich Otto Tomek an, damals am WDR In Köln der Leiter für Neue Musik, und sagte, es funktioniere nicht, mit den hiesigen Leuten eine Kagel-Aufführung mit Musik für Renaissance-Instrumente zustande zu bringen. Mauricio Kagel wollte wie in den 1970ern andere auch aus jedem Instrument Klänge hervorholen lassen, wie man sie noch nicht gehört hatte. Das hat sich ja mit den Jahren dann totgelaufen, aber damals hat mich das auch sehr inspiriert. Einen Sommer darauf konnte ich mit einer Komposition für ein Konzert in Alpbach aufwarten. Das habe ich “Maraviglia” genannt, das war 1968 und ein Riesenerfolg. Und so ist es mit Komponieren immer weiter gegangen.

Was sind denn die wichtigsten Renaissance-Instrumente gewesen bei Kagel in Köln?

Ah so, ja: Blockflöten, Krummhörner, Viola da gamba, Zink.

Ich ersehe aus der Werkliste auch, dass Sie viel Theatermusik geschrieben haben.

Und auch Filmmusik, die berühmteste zu “Molière” von Ariane Mnouchkine Ende der 70-er Jahre. Und im Moment kriege ich die bereits im Druck hergestellten Stimmen für das sirene Operntheater. Das wird eine Oper nach einer Episode von “Nachts unter der steinernen Brücke” von Leo Perutz, ein Einakter von ca. einer Stunde Dauer.

Wir hatten vor 4 Jahren ein Gespräch, da erzählten sie über die große Oper “Daniel”, und dass es mit der geplanten Uraufführung in Dresden hapert. Ist die eigentlich auch auf Hebräisch?

Die ist in Aramäisch. Und noch immer nicht ganz fertig. Vor allem. Die Sprache in der Daniel in der Bibel steht. Ich bringe immer noch Änderungen und Ergänzungen dran, das ist mit Orchester und allem und dauert 2½ Stunden.

Sprechen wir noch einmal über Ihre Bestrebungen in der Alte Musik-Szene. Wie begann das alles bei ihnen?

Ich spielte Klavier, erst fühlte ich mich dazu von meinen Eltern gezwungen, aber plötzlich gefiel mir das sehr und ich spielte die ganze Zeit. In der 3. Klasse der Mittelschule musste ich ein Jahr wiederholen. Mein Vater sagte den Lehren, “Gehn’s,  lassen Sie ihn das Jahr wiederholen, die Schulzeit ist die schönste." (lacht schallend). Ein einmaliger Vater.

Das war ja noch im Krieg.

Ja, sicher. In der neuen Klasse haben sie mich neben einen Musterschüler gesetzt, das ist der jetzige Historiker Gerald Stourzh. Der wollte mit mir etwas spielen auf der Blockflöte, ich Klavier. Er hatte so Bearbeitungen von Salzburger Menuetten von Mozart. Das gefiel mir, ich machte allein eine Blockflötenschule durch. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es dafür Lehrer gibt. Im Dom in den letzten Kriegstagen, rundherum Bombendonner – auf der Kanzel ein fanatischer Prediger, ausser mir noch zwei, drei Leute, da traf ich zufällig Ernst Kölz. "Der Krieg ist bald aus, treffen wir uns." Dann ging ich wie er aufs Konservatorium, über die Blockflöte kommt man zwangsläufig zur Alten Musik. Ich stieß in der Musikakademie auf Prof. Mertin, skurriles Original, Leiter des Concilium musicum. Dann machten wir mit Kollegen das erste Ensemble. Auf einmal waren wir im Musikverein.

Es soll immer so originalgetreu, aber auch so lebendig wie möglich sein?

Unbedingt. Das ist das Wichtigste. Weil ohne Leben ist nichts was. Auch das ganz Ernste muss Spass machen.

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