Kommentar zu IKARUS

Das durchaus opernaffine Libretto von Thomas Arzt hatte mir zunächst etwas Kopfzerbrechen bereitet: Dass Wachstum zum Crash führen kann, lässt sich ja beinahe täglich in den Medien verfolgen. Dass ein Aufsteiger abstürzt, wenn auf kapitalistische Euphorie Krise und Zusammenbruch erfolgt, ist traurige Realität, aber auch eine Folge des Konsumwahns geworden. Aber nicht gegen jede Krise gibt es eben eine geeignete Impfung.

Werbung ist Lüge“, sage ich fast täglich beim TV-Konsum. Konsum-Wahn zerstört die Welt, weitgehender Konsum-Verzicht könnte sie retten! So wird in „IKARUS“ der Investment-Manager letztlich zum Bettler, verliert durch seine Gier Liebe und Gemeinschaft. In meiner Musik habe ich versucht, die Schwarz-Weiß-Thematik des Librettos durch musikalische Gegensätze darzustellen: Hochtief, schnelllangsam, harmonischatonal, Dreiklang gegen Zwölftönigkeit usw., ohne dabei Ironie und Satire zu kurz kommen zu lassen.

Musikalische Prosa sollte die Vielfalt von Szenen und Orten der Handlung dramaturgisch verbinden helfen, wobei auch der Emotionalität stimmlichen Materials keine Grenzen gesetzt werden. Im instrumentalen Bereich gibt es immer wiederkehrende Kombinationen von Instrumenten mit einzelnen Personen der Handlung. Das wird gleich zu Beginn des 1. Aktes deutlich, wenn die Caféhausbesitzerin Rosalinde durch das Piccolo und der Bettler durch die Baßtuba charakterisiert wird.

Auch die aus zwei mal sechs Tönen zusammengesetzte 12-tönige Ganztonleiter ist ein – in diesem Fall zur Darstellung des „Aufstiegs“- häufig zum Einsatz gebrachtes Element. Überhaupt spielt die Wahl der Intervalle zur Darstellung von Emotionen eine wichtige Rolle. In meinen Musiktheater-Kompositionen sehe ich mich als Komponist in der Funktion, den Text Silbe für Silbe emotional verständlicher zu machen, Melismen sind nur selten zu finden.

So einfach lässt sich die Verbesserung der Welt musikalisch gar nicht darstellen. Wie in der Politik geht es auch in der Musik um die Überwindung von liebgewordenen Gewohnheiten: Um die Befreiung vom Tonika-Dominante-Denken, ohne auf den Dreiklang als akustisches Phänomen oder auf den Leitton am Ende einer Phrase zu verzichten. Es geht um den Verzicht auf Dur- oder Molltonleitern, zu Gunsten von weniger abgenützten Wegen, wie Skalen aus abwechselnd Halb- und Ganzton, wie sie Olivier Messiaen gerne verwendet hat, oder um Ganzton-Konstruktionen, jenseits von Ost-Charme und Impressionismus.

Der gegenwärtige Trend, Musik als Mittel zur Unterhaltung statt als Lebensmittel zu sehen, läuft parallel zur Rolle des Konservativismus in der Kunst überhaupt, zur Ablehnung einer kritischen Auseinandersetzung von Künstlerinnen und Künstlern mit der Gegenwart, ja, zu einer Ablehnung alles Ungewohnten, Fremden oder fremd Wirkenden, zu jeder Form der Veränderung auch in der Politik?

Dieter Kaufmann, Sommer 2020