Vielstimmigkeit, fremd

5 Fragen zur musikdramatischen Konzeption der Oper "Der Fremde" (Libretto: Martin Horváth)

Die Musik zu dem Libretto "Der Fremde" von Martin Horváth ist die meiner dritten Oper. Nachdem ich in "Heptameron", einem Auftragswerk der Opernbiennale München in Zusammenarbeit mit dem ZKM, dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe, uraufgeführt 2002, die Textzusammenstellung nach Geschichten der Margarete von Navarra selbst vorgenommen hatte, und mir in meiner Kurzoper "Der Mann mit der Blume im Mund" nach Pirandello für das Taschenopern-Festival 2017 in Salzburg den Text ebenfalls selbst zugerichtet hatte, erhielt ich nun mit "Der Fremde" am 24. April 2018 ein fertiges Libretto übersandt.

Und was für ein Libretto ! Als ich es zum ersten Mal durchlas, war mir sofort klar, dass ich dieser strengen, knapp und übersichtlich organisierten Sprachwelt, die allerdings auch viel Raum für Musik lässt, eine grosse musikalische Stimmenvielfalt entgegensetzen wollte: Meta-Stilistik, wie schon in den meisten meiner Werke der letzten Jahre: nicht das Komponieren "in" verschiedenen Stilen ist damit gemeint, sondern Stile als Ausgangsmaterial der künstlerischen Arbeit, mit denen ich dann umgehe, wie früher mit Klangsystemen, Akkorden oder Rhythmen. In der Ausarbeitung der Musik folgte ich dem Libretto Szene für Szene, sozusagen Takt für Takt. Nicht ein Wort musste geändert werden, lediglich eine mehrschichtige Introduktion wurde von mir vor-, und nach der 7.Szene ein ebenfalls instrumentales Interludium eingefügt. Während der monatelangen Arbeit an dem Stück hatte ich mir nur eine einzige zeitliche Vorgabe gesetzt: 70 Minuten, nicht länger. Am Ende zeigte meine Stoppuhr 69 Minuten.

Frage 1: Arabische Musik, warum nicht ? Das Lied des Garib, des "Fremden", am Schluss der Oper, muss nach den Vorgaben von Martin Horváth in Farsi gesungen werden (mit der deutschen Übersetzung als Übertitelung), - ein Geschenk, wie ich es von Anfang an empfand -, und so schrieb ich im Maqam Yakah dieses Lied als arabische Musik, die sich schon vorher in den kurzen Bekundungen des Garib, und in der Oud, die seine Stimme fast ständig begleitet, andeutet, im Interludium schon deutlicher wird, bis Garib zum Schluss seinen Ton und sein Lied findet. In fremder Zunge sprechen, warum sollte ich es als Komponist nicht auch tun, als Selbstversuch ?

Frage 2: Eine der wichtigsten Fragen gleich am Anfang meiner musikalischen Arbeit war die Verortung des Stückes: Martin Horváth hatte es ja wunderbar vermieden, auch nur einen kleinen Wink zu geben, wo denn das Ganze spiele, und ich wollte nun in diese Offenheit keine musikalische Verbindlichkeit hineinschmuggeln. Andererseits wollte ich für den "Familientisch" einen ganz unverwechselbaren Stil finden, der sofort musikalisch zugeordnet werden kann. Kurz aufblitzende Ideen, Elemente alpenländischer Musik bzw. Alpenrock zu verwenden, hatte ich sofort wegen ihrer allzugrossen Eindeutigkeit verworfen. Aber dann fielen mir die unzähligen Vorabend-Serien im Fernsehen der 60er und 70er Jahre ein, später die Soap-Operas, die nicht nur in Amerika und Europa, sondern wahrscheinlich auf der ganzen Welt konsumiert wurden, und in denen nicht selten als Kennmelodien oder zur Untermalung Broadway-Showtunes der 20er und 30er Jahre verwendet wurden. Hier hatte ich meinen "Familien"-Klang, westlich orientiert zwar, aber universell erkennbar und zuortenbar. Die Familie war verortet !

Frage 3: Und dann gibt es da die Klänge des Hauses, jene für mich fast klaustrophobische Geschlossenheit der Szenerie zwischen Familientisch und Holzverschlag (im Keller ?): das Klopfen auf Holz, das Knallen der Metalltüren von Verhörzellen, - das Tamtam bekommt hier eine rituelle Funktion in den je Szene anwachsenden Metallschlägen, - die Klänge der Angst, des fast unhörbaren Scharrens, Knisterns, Tastens, eines Ächzens, das sich bis zur 13. Szene raumfüllend ausbreitet. Musique concrête, aber instrumental: keine Elektronik, so die Absprache mit Jury Everhartz, der ich gar nicht ungerne nachkam.

Frage 4: (aus meiner Antwort-Email an Kristine Tornquist vom 20. März 2020) :

"Zu den Zitaten: Jessas ! - da ist soviel drin, dass ich wahrscheinlich selbst nicht mehr alles rekonstruieren kann. Übrigens ist es auch gar nicht wichtig, alles zu erkennen, - ich vermeide sogar tunlichst vorherige Ankündigungen, da dann die HörerInnen nur noch herumrätseln, was das oder das sein könnte - ohne sich dem Spass des irgendwo Vertrauten zu überlassen. Die stilistische Vielfalt, die Vielstimmigkeit, im Sinne Michail M. Bachtins, zu erkennen, ist das Entscheidende. … Also, es gibt ein paar Hauptstränge: Die Broadway-Showtunes der 20er und 30er Jahre: "Button Up Your Overcoat" , "Dancing On the Ceiling", Mutter-seits kommt dann noch "Over the Rainbow" ("… und es wird ein echter Mensch aus ihm…") und "Hernandos Hideaway" (und ein bisschen "Salome") dazu. Der Vater hat ja in seiner Sarastro-Ambivalenz ein bissel was Zauberflötiges um sich (aber auch die Tugendaufzählung der Mutter kommt von deren drei Frauen her ...), und der Rossini bei der ersten Ankündigung des Vaters, er habe "einen Fremden" ins Haus gelassen, stammt aus der "Italiana in Algeri" (also quasi total anders herum ...). Beim Sohn brechen immer wieder Rock-Riffs durch, die ich aber eher brutal herausgerissen und entstellt habe und im Einzelnen auch selbst gar nicht mehr so recht zuordnen kann. Die Salzburger Landeshymne ("Jeder Mensch hat eine Heimat") ist etwas verzerrt, um patriotische Seelen nicht allzusehr zu verletzen. Die Tochter, ja: ihr habe ich am Schluss eines der schönsten Bach-Zitate in den Mund gelegt, und sonst ein bisschen von meinen eigenen ganz frühen Stücken bei ihr hineingeheimnist (auch um ein wenig die herzbewegende "Naivität" der Tochter zu beschwören ...)."

Auch wenn "Der Fremde" nicht explizit in die Reihe meiner "Anamorphe" aufgenommen ist, so ist doch das Fremde per se - anamorph.

Frage 5: Und nun soll ich auch noch einen Vorschlag machen, wie sich die Welt "am besten verbessern" lässt ? Nun - vielleicht, ein bisschen, durch die Kunst ? Eine gewisse Weite des Denkens und Fühlens, die jedes Kunstwerk vermitteln kann, wäre vielleicht kein schlechter Anfang ?

Gerhard E. Winkler, Sommer 2020