Kein Erbarmen!

Der seelischen Verwahrlosung des Menschen und der Verhärtung gegen jene, denen es schlechter geht, haben fast alle Kulturen und Religionen Tugendreihen entgegengesetzt. Sie sollen ein Bild des idealen Menschen entwerfen und zur tätigen Solidarität mit Bedürftigen aufrufen. Über Zeit, Raum und Kulturen hinweg gleichen die vorgeschlagenen Tugendübungen wie ein Ei dem anderen. Die Weisungen des Pentateuch unterscheiden sich durch nichts von jenen des Buddha, gerade so wenig wie jene der Evangelien von denen des Koran.

Es gibt da kein Trennendes, nur Gemeinsamkeiten, und vor allem eine Gemeinsamkeit ist es, die unter allen anderen hervorsticht, nämlich die der vollkommenen Erfolglosigkeit aller menschenfreundlichen Weisungen der Religionsstifter und Philosophen, der Rechtslehrer und Weisen seit Anbeginn. Die Sache ist wie verhext. Je mehr wir die Werke der Barmherzigkeit üben, desto größer scheint das Übel zu werden, dem sie wehren sollen. Ist es vielleicht gerade das Erbarmen, das die Misere, der es wehren will, erhält, indem es sie milde lindert, anstatt sich mit der gebotenen Aggressivität an ihre Abschaffung zu machen?

Nüchtern betrachtet sind die Werke der Barmherzigkeit nichts als sehr unzureichende Antworten auf himmelschreiende öffentliche Skandale: Die Tatsache von Hunger, Durst, von Mangel an Bekleidung und Obdach, von Fremdheit und Gefängnis ist ein Skandal. Durch die vergleichsweise leichte Übung der Barmherzigkeit meinen wir uns der unvergleichlich größeren Mühe enthoben, die Ursachen dieser Skandale zu bennen, sie anzugreifen und sie abzuschaffen.

Die gemeinsame Ursache der unerträglichen Kulturschande, auf welche die Barmherzigkeiten in unzulänglicher Weise reagieren, hat aber einen Namen: Armut. Und die Armut wiederum hat Ursachen, die man verstehen, benennen und beseitigen kann und muß.

1. Die Toten : begraben
2. Die Nackten : bekleiden
3. Die Durstigen : tränken
4. Die Fremden : aufnehmen
5. Die Kranken : besuchen
6. Die Hungrigen : speisen
7. Die Gefangenen : besuchen