European Cultural News, 26.09.2020, Michaela Preiner

Sieben in einem Herbst

Das sirene Operntheater präsentiert in diesem Herbst sieben ! Uraufführungen zum Thema „Die Welt verbessern“.

Für zeitgenössische Opernmusik gibt es nicht wirklich viel Publikum. Das hat mehrere Gründe. Zum einen sind die Hörgewohnheiten trotz rund 100 Jahren Atonalität noch nicht auf aktuelle Klänge umgestellt. Zum anderen trauen sich viele Menschen keine eigene Meinung zu, wenn es darum geht, das Gehörte und Gesehene zu beurteilen. Und last but not least ein nicht unwichtiger Punkt: viele zeitgenössische Opern sind inhaltlich eine schwer verdauliche Kost. Happy Ends sind – so kann man tatsächlich den Eindruck gewinnen – meist verpönt.

Berücksichtigt man all diese Aspekte, ist die Produktion dieser Kunstgattung per se ein Wagnis. In Corona-schwangeren Zeiten noch viel mehr. Umso höher ist es den sirene Operntheater - Verantwortlichen anzurechnen, dass sie in diesem Herbst gleich mit 7 Uraufführungen von in Auftrag gegebenen Kurzopern aufwarten. Und diese quasi im staccato-Tempo im Abstand von rund 2 Wochen zur Aufführung bringen. Kristine Tornquist und Jury Everhartz ist aber noch ein zweites Kunststück gelungen. Der Generaltitel der Opernreihe lautet „Die Verbesserung der Welt – ein Kammeropernfestival in sieben Runden“. Er weist schon darauf hin, dass die Geschichten, die erzählt werden, mit einer Idee zu tun haben, die derzeit verpönt zu sein scheint. Nämlich jener, dass unsere Welt zu verbessern ist.

Als grundsätzliche Blaupause dienten den Auftragswerken die „sieben leiblichen Werke der Barmherzigkeit“, abgeleitet aus dem Matthäus-Evangelium. Und – was man nach den ersten beiden Premieren sagen kann: Die Idee ist aufgegangen und man darf sich auf die weiteren Produktionen mehr als freuen.

Ewiger Frieden

Zu Beginn der Reihe stand „Ewiger Frieden“ nach einem Text von Dora Lux, einem Pseudonym von Kristine Tornquist, und der Musik von Alexander Wagendristel. Das Ensemble Reconsil setzte musikalisch eine Geschichte um, die von einem Toten handelt, den es eigentlich nicht geben darf. Dora Lux, Ehefrau von Jury Everhartz und mit ihm Begründerin des sirene Operntheaters, berichtet darin von einem jungen russischen Soldaten, der im Ukraine-Konflikt ums Leben gekommen ist. Seine Leiche wird an ein Bestattungsunternehmen in seinen Heimatort gebracht, wo ihn seine Ehefrau identifizieren soll. Das wissen jedoch die beiden Bestatter zum Glück zu verhindern. Zu schlimm sind die sichtbaren Verletzungen, als dass sie diese der Frau zeigen würden. Dazu kommt noch ein glücklicher Umstand: Diese erhält noch rechtzeitig vor der geplanten Identifikation einen Brief vom Militär, in dem die Rede von einer Verwechslung des Toten ist und ihr der Sold ihres Mannes weiter zugesichert wird. Nun aber sind die beiden Bestattungsunternehmer mit der Tatsache konfrontiert, dass sie den Leichnam beerdigen müssen, ohne dafür aber je Geld zu bekommen. Nach kurzer Beratung tun sie dies im eigenen Garten, und legen ihn – wie man aus dem Libretto erfährt – zu anderen, die dasselbe Schicksal ereilt hat. Lux spielt hier auf die Barmherzigkeit „Tote bestatten“ an. Gerade in unserer heutigen Zeit, in der sich, so hat es den Anschein, auch jegliche zwischenmenschliche Beziehung „rechnen muss“, ist dieser stille Bestattungsakt tatsächlich ein barmherziger.

Die Musik von Alexander Wagendristel weist eine ganze Reihe von folkloristischen Russland-Bezügen auf, ohne jedoch jemals ins Süß-Kitschige abzugleiten. Ob Glocken oder ein Akkordeon, dessen Melodie das Orchester bereitwillig aufnimmt, ob einige kurze Einsprengsel der russischen Hymne, oder auch ein „Ewigkeitsmarsch“ – seine Musik verankert das Geschehen auch auditiv in Putins Land. Letzterer spricht durch einen amüsanten Regie-Einfall auch „live“ aus dem Fernsehen (Gebhard Heegmann). Interessant auch jene musikalische Idee, durch die Wagendristel sowohl die göttliche Fügung als auch die aktuelle politische Führung im gleichen Diktum erklingen lässt.

Die überzeichneten Figuren der beiden gegensätzlichen Bestatter, wunderbarst von Robert Chionis und Evert Sooster gesungen und gespielt, sowie die pantomimische Begleitung von Bärbel Strehlau, die einen Helfer im Unternehmen „Ewiger Friede“ köstlich auf die Bühne bringt, rücken die Geschichte in die Nähe von Slapstick-Aufführungen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Kinosäle beherrschten. Tehmine Schaeffer schraubt das Lamento über ihren zuerst tot geglaubten Ehemann in höchste Höhen, um sich schließlich ganz erfreut über die Weiterzahlung des Soldes von jeglicher weiterer Frage ob des Verbleibes ihres Mannes fernzuhalten.

Ein „naiv gebasteltes“ Bühnenbild – erinnert nicht von ungefähr an Entbehrungen und zugleich kreativem Ideenreichtum von Menschen in einem Land, in welchem die Schere zwischen Reich und Arm noch viel stärker ist als bei uns.

Für diese Regie, aber auch für jene der restlichen sechs Kurzopern ist ebenfalls Kristine Tornquist verantwortlich. Auffallend dabei ist auch der sensible Umgang mit kleinsten Gefühlsregungen, welche die Sängerin und die Sänger erkennbar gekonnt umsetzten.

Trotz des letalen Ausganges verströmt diese Oper eine starke Hoffnung. Sie zeigt, wie es auch in der zweiten Oper „Elsa“ der Fall ist, dass Barmherzigkeit oder, um es schlicht Menschlichkeit zu nennen, nicht von Verordnungen und sozialen Zwängen abhängt. Vielmehr sind es die Herzen, die sich öffnen, wenn zwischen brutaler Wahrheit oder tröstender Lüge, zwischen unbarmherzigem Recht und einfühlsamer, individueller Entscheidung gewählt werden muss.

Elsa

Die zweite Produktion mit dem Titel „Elsa“ widmete sich der barmherzigen Tugend „Nackte zu bekleiden“. Der Text dazu stammt von Irene Diwiak, die Musik schrieb Margareta Ferek-Petric. Edo Micic leitete das Ensemble Zeitfluss, das viel mit der Produktion von Geräuschen zu tun hatte. Die Komponistin setzt über weite Strecken auf ungewöhnliche Geräuscherzeugung der Instrumente, wie sie in der aktuellen Kompositionspraxis gerne eingesetzt wird. Neben einzelnen Soli, aber auch Duetten und Terzetten, wird auch gesprochen. Das Orchester wiederholt des öfteren Wörter oder ganze Sätze, oder lacht laut auf, um das Gesagte atmosphärisch stärker zu unterstreichen.

Die Geschichte spielt in einer Oberstufenklasse eines katholischen Internates. Dort wetten drei junge Männer vor den Ferien, wem es gelänge, eine nackte Frau zu fotografieren. Markus und Michael Liszt sorgen für ein außergewöhnliches Bühnenbild: drei nebeneinanderliegende Toiletten, nach vorne zum Publikum hin offen und einsichtig. Dort dienen die Wasser-Reservoirs als Verstecke von Alkohol und Zigaretten – bis sie von Schwester Immaculata – die ihren Auftritt unter Glockengeläut absolviert – gefunden werden. Bärbel Strehlau agiert abermals, in dieser Produktion auch als Turnlehrerin, die weiß, wie man junge Männer schindet.

Moser, Staudinger und Dorsday – so die Namen der drei Schüler, sind darauf angewiesen, ihre ersten libidinösen Erfahrungen aus dem Internet zu konsumieren. Mit Vladimir Cabak, Kevin Elsnig und Georg Klimbacher sind die jungen Männer optimal besetzt.

Im zweiten Bild liegt der junge Dorsday im Bett in seinem Jugendzimmer und kommt dort auf die Idee, die Putzfrau Elsa zu fragen, ob sie sich auszieht und er sie nackt fotografieren dürfe. Pochende Streicher und flirrende Bläser lassen erahnen, wie es dem Jungen in diesem Moment dabei geht. Ein kurzes Nachäffen der Tonlage der Putzfrau lässt erkennen, wie groß der Druck ist, unter dem er steht und die Trompeten ahmen echohaft seine Fragen an die verunsicherte Frau nach. Solmaaz Adeli brilliert in ihrer Rolle als Putzfrau, die sich nach anfänglichem Zögern bereiterklärt, und sich auf den Deal einlässt, der ihr immerhin einige Tausender einbringt. In ihrer Arie, in der sie über ein „gutes Leben“ singt, werden harmonische Kurzinformationen hörbar, die den Traum vom besseren Leben musikalisch leicht rosa einfärben. Die Regie agiert geschickt in der Szene, in welcher sie sich vor dem jungen Mann auszieht und achtet ganz besonders auf dessen seelische Befindlichkeit, die sehr gut visualisiert wird. Ängstlich und fordernd, zurückhaltend und tollpatschig – jedes Gefühl wird erkenn- und nachvollziehbar.

Groß ist die Überraschung mit einer erzählerischen Volte zum Schluss. Es ist ausgerechnet Nicholas Dorsday, der die Wette ursprünglich angezettelt hat und Elsa für sein Ansinnen viel Geld zahlte, der davon absieht, die Fotos seinen Freunden zu zeigen. Er hat in einem Reifeprozess die Unmoral seines Tuns verstanden und steht lieber als Verlierer da, als jene Frau bloßzustellen, der er geschworen hat, dass die Fotos niemand zu sehen bekommt.

Neben dieser schönen Auflösung kommt es aber noch zu einem weiteren Happy End. Er, der von allen nur Dorsday genannt wird, wird nach seinem eindringlichen Bitten an seine Kommilitonen – die sich in diesem Moment als wahre Freunde herausstellen – endlich mit seinem Vornamen, Nicholas, angesprochen.

Im Orchester wirbelt, wie es auch ganz zu Beginn der Fall war, der Wind und verbläst letztlich ein zartes, langes Trompetensolo, das immer leiser werdend, schließlich ganz verhallt.

Eine sehr gelungene Produktion, die ohne moralinsauren Zeigefinger auskommt und zugleich einen höchst vergnüglichen Abend bereitet.

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