Musikleben (Muzlifemagazin), Zhenya Lianskaya-Lininger, 24.12.2020 (deutsch) (pdf)

Es ist an der Zeit, die Welt zu einem besseren Ort zu machen

Im Herbst des ausgehenden Jahres, genau zwischen zwei coronabedingten Lockdown-Perioden, präsentierte das sirene Operntheater in Wien ein Festival mit gleich sieben Kammeropern unter dem utopisch-ironischen Titel "Die Verbesserung der Welt".

In den 1990er Jahren entstanden unabhängig voneinander moderne Musiktheatergruppen in Wien - vielleicht war die Eröffnung des wichtigsten österreichischen Festivals für zeitgenössische Musik, Wien Modern, der Anstoss dafür, das Claudio Abbado 1988 gründete. Seitdem gibt es im Schatten der drei Opernriesen der Stadt - der Wiener Staatsoper, des Theaters an der Wien und der Wiener Volksoper, die sich selten zu moderner Oper herablassen - in Wien eine ganze Galaxie unermüdlicher Enthusiasten, die Brennstoff in den Ofen des modernen Musiklebens werfen. Auf den Bühnen dieser Theatergruppen werden Kammeropern von bereits bekannten Komponisten, Hans Werner Henze, Olga Neuwirth, Grigori Frid, Yannis Xenakis, Bernhard Lang, Klaus Lang, aber auch von jungen, aufstrebenden Autoren gespielt.

Eines der aktivsten Mitglieder der unabhängigen Opernszene in Wien ist das sirene Operntheater, das 1998 von der Regisseurin und Librettistin Kristine Tornquist und dem Komponisten und Dirigenten Jury Everhartz gegründet wurde. Dieser Zusammenschluss, sowohl beruflich als auch privat, besteht mittlerweile seit über zwanzig Jahren. Es brodelt weiterhin mit einer Vielzahl von Ideen und Themen. Auf der Suche nach neuen Formaten erfanden sie verschiedene Opernreihen und das Genre der "Operelle" - einer Miniaturoper, die nicht länger als zwanzig Minuten dauert. Die Aufführungen des sirene Operntheaters fanden in der Wiener Kammeroper und im Jugendstiltheater von Otto Wagner, im Nationalpark Donauauen und an der Wiener Akademie der Künste statt - und schliesslich in diesem Jahr in einem neuen Kulturzentrum in einer ehemaligen Sargfabrik am Stadtrand von Wien, wo das Opernfestival "Die Verbesserung der Welt" stattfand.

Basierend auf dem bekannten Katalog der sieben Barmherzigkeiten (Hungrige speisen, Durstige tränken usw.) präsentierten die Autoren des Festivals sieben Kammer- und Comic-Opern, in denen aktuelle Geschichten auf die eine oder andere, manchmal auch unerwartete Weise die überzeitlichen sieben Tugenden widerspiegeln.

Die Opern sind sehr verschieden situiert: sie spielen in einem katholischen Knabeninternat, in einem Wiener Krankenhaus, in der Provinz Tirol, in einem Bestattungsunternehmen und so weiter. Österreichische Schriftsteller (Autoren der sieben Libretti) und Komponisten aller Generationen wurden zur Zusammenarbeit eingeladen und erfanden Opern ganz verschiedener Stilrichtungen. Vorgeschrieben war den Komponisten die Anzahl der Instrumente (maximal 14) und eine begrenzte Anzahl von Solisten. Einige Beobachtungen und Eindrücke vom Festival zeigen, dass eine moderne Comic-Oper die Welt schon für mindestens einen Abend verbessern kann.

Die Oper "Elsa" - das Operndebüt von Margareta Ferek-Petric - widmet sich dem schwierigen Schicksal von Teenagern, die in einem katholischen Internat in Abwesenheit echter Frauen ausser solchen in Zeitschriften und Internet verschmachten. Die einzige verfügbare Frau ist Schwester Immaculata, aber schon bei der Erwähnung ihres Namens vergeht das Vokalensemble der schüchternen Jugendlichen im Gregorianischen Choral. Inkarnation der "echten" Frau in dieser Geschichte ist Elsa, eine Putzfrau, nicht sehr jung, gespielt von der grossartigen Solmaaz Adeli (Mezzosopran). Ihre seidige, voll klingende Stimme und die wunderbaren Übergänge von hellen, hohen Tönen zu leisem Sprechen im tiefen Register schaffen das Bild einer durchschnittlichen Frau, die den pubertierenden Teenagern zum Traumbild wird. In dieser fesselnden Geschichte spielen auch die Orchestermusiker faszinierendes Instrumentaltheater, sie rascheln mit Papierfetzen, flüstern, singen, unterhalten sich mit geistreichem Humor, spielen mit Jazzelementen und Klängen aller Art.

Die Oper der Komponistin, Bratschistin, Gründerin und langjährigen Mitspielerin des Ensembles Reconsil (für zeitgenössische Musik) Julia Purgina "Der Durst der Hyäne" spielt im fernen Kongo. Ein Bauernpaar verliert seine einzige Kuh, die durch chemische Abfälle vergiftet worden war. Die Frau versucht, zuerst vom Fabrikleiter und dann vom Schamanen des örtlichen Gerichtes Gerechtigkeit zu erlangen. Trotz der Drehungen und Wendungen und des hartnäckigen Fatalismus des Mannes („Natürlich,“, wiederholt er in einem melancholischen Refrain, „unser Leben ist wie Wasser: es fliesst bergab.“), endet die Oper mit einem Happy End. Es ist erstaunlich, dass es den heldenhaften Organisatoren des Festivals in Covid-Zeiten gelungen ist, fünf schwarze Solisten nach Wien zu bekommen, die fabelhaft und auf Deutsch sangen. Die Musik von Julia Purgina bildet einen ausdrucksstarken Kontrapunkt zum cleveren und ironischen Text des Librettos. Die Geschichte der toten Kuh erweist sich als ideale Basis für die vollwertige Comic-Oper, der sich die Komponistin voll und ganz verpflichtet fühlt: Onomatopoeia-Techniken, etwas Rossini-Geist, das Spielen mit Barockfiguren und ein Orchester, das für eine kongolesische Geschichte unerwartet ist. „Für mich war es wichtig, eine Oper zu schreiben, die nach klassischen Gesetzen gebaut wurde.“, sagt Julia Purgina, „Da-Capo-Arien, Rezitative, Duette, ein gemeinsames Ensemble im Finale. Und diese mehr oder weniger traditionelle Struktur gab mir hinsichtlich einer modernen Sprache genügend Freiheit, zum Beispiel ein Bassflöten-Solo und Saxophon-Glissandi zu kombinieren. Allein die Anwesenheit eines Cembalos im Orchester trägt dazu bei, der im fernen Kongo spielenden Oper einen gewissen universellen Charakter zu verleihen, der durch die Geschichte der Erschaffung der Welt, die am Anfang erzählt wird, noch unterstrichen wird. Ein Cembalo ist in jeder Weltkultur vorhanden. Es war mir sehr wichtig, eine „universelle“ Musiksprache zu verwenden und auf keinen Fall in Pseudo-Folklorismus zu verfallen. Und das Cembalo hilft dabei, dies nicht nur als Reise auf einen anderen Kontinent, sondern auch in eine andere Zeit zu interpretieren.“

Gerhard E. Winklers Oper "Der Fremde" ist vielleicht die eindeutigste Geschichte, in der es um Barmherzigkeit geht. Heute und immer aktuell: Was passiert, wenn Sie einen "Fremden" in Ihr Haus bringen? Er versteht "unsere Sprache" nicht, er isst "unser Essen" nicht, er singt nicht und schätzt "unsere Lieder" nicht. Ohnehin stimmt etwas nicht mit ihm, wenn er aus "fremden Ländern" geflohen ist. Die ironische Nachstellung parodiert den berühmten Film "The Sound of Music", eines der bekanntesten österreichischen Exporte, gemeinsam mit Mozart-Bonbons und Tiroler Volksgesang. Auf der Bühne steht ein Lebkuchenhaus im Geiste von Hänsel und Gretel, um das einige "Einheimische" in Trachten und mit Gewehren auf den Schultern regelmässig im Polka-Rhythmus "tanzen". Wachsfigurenartig sind die Gastgeber. In der traurigen Geschichte über die schmerzhafte Suche nach den Grenzen der Barmherzigkeit weicht der Komponist unerwartet weit von seiner bekannten Technik ab. Winkler nutzt Avantgarde-Mittel wie Mikrotonalität und Elektronik, er schreibt polystilistisch mit Zitaten, Kabarettanklängen, Barockeinlagen, exotisch-orientalischen Einschüben (das Abschiedslied des Fremden, auf Farsi gesungen, wird von einem Oud im Orchester begleitet), Arien im Stil altenglischer Balladen, die von der zauberhaften Mezzosopranistin Johanna Krokovay gesungen werden, und ausdrucksstarker Rezitative.

In der Oper Amerika oder die Infektion ist Matthias Kranebitter (Gewinner des Erste-Bank-Kompositionspreises 2020 - einer der renommiertesten österreichischen Preise für Neue Musik) der einzige Komponist, der nicht nur akustische Instrumente, sondern auch Elektronik einsetzt. In dieser Oper wird einer der witzigsten und interessantesten Instrumentalparte mit einem eher monotonen Gesangsteil kombiniert - einem endlosen Sprechgesang, wobei die Solisten sehr gute Arbeit leisten. Es darf verraten werden, dass das Publikum trotz der atonalen Cluster, trotz elektronischer Geräusche und sehr schwieriger Gesangslininen leicht und mit dem grössten Vergnügen den Drehungen und Wendungen der Handlung folgt und sehr viel und herzlich über die Musik- und Textwitze lachen konnte.

Interessanterweise steht in Bezug auf Komplexität und Verfeinerung des Melos' die Oper des Vertreters der älteren Generation der sieben Auserwählten, des Komponisten Dieter Kaufmann (des Lehrers von Matthias Kranebitter), der Oper "Amerika" genau gegenüber. In seinem "Ikarus" wird deutlich, dass die Musik der "Väter" in ihrer Komplexität und vielleicht dem grundsätzlichen Mangel an Kommunikation der Musik der "Kinder" der 30er und 40er Jahre weit überlegen ist. Kaufmanns Oper ist dem Genre des melodischen Monodrams viel näher als der Oper. Der Gesangsteil ist ein monotones Rezitativ mit wenigen, von nagenden melodischen Fragmenten durchsetzten und ausdrucksstarken Ensembles. Die absichtliche Deklamation offenbart noch mehr den wahrheitsgemässen Alltag der Sprache im Libretto - ohne Pathos und bewusste Grobheit. "Dummer Idiot!", singt einer der Charaktere in einem Rezitativ. "Du bist selbst einer!", intoniert sein Gesprächspartner. Der Komponist setzt das zur Verfügung stehende Ensemble von 14 Instrumentalisten äusserst sparsam ein: der transparente Gesangsteil wird hauptsächlich von einzelnen Soloinstrumenten begleitet, vor allem Trompete und Akkordeon.

Nachvollziehbare und einfache Geschichten aus dem praktischen Leben, ironische Texte und witzige und pointierte Darbietungen ziehen die Aufmerksamkeit auch des Teiles des Publikums an, der moderner Musik vielleicht etwas ferner steht. Kluge Vokalkompositionen und kühne Instrumentalexperimente begeistern die Musikliebhaber und erweitern auch den Horizont der Profis.

Jahr für Jahr bieten die kleinen Musiktheater wie das sirene Operntheater ihren Autoren ein lebendiges und kreatives Labor für neue Opern, in dem neue Ideen kochen und wo es einen Ort für sprachliche und stilistische Experimente gibt, wo die Grenzen des Genres erweitert werden und wo vor allem ein Publikum geschaffen wird, für das die moderne Oper wieder etwas bedeutet und nicht einfach nur erschreckend und unverständlich ist.

Zhenya Lianskaja-Lininger | Andere Kritiken