Eine Barockoper

Groß wäre der, der die ganze Vergangenheit in sich aufgenommen hätte und stark genug wäre, sie wieder zu vergessen. Glücklich wäre die Zeit, in der wieder Formeln der Kunst lebendig wären, als eine Sprache, die von jedermann verstanden wird - oder zum mindesten von den Verständigen.  A. Einstein

Dem Ende unserer Musikkultur, das nur um ein weniges dem Ende unserer Kultur überhaupt vorausgeht, muß man mit klarem Auge, so wie dem Tode, entgegensehen... Die Musik stirbt nicht an Blutarmut, sondern an Blutüberfluß.  A. Honegger

Historizismus, Relativismus, Eklektizismus, Klassizismus, Quietismus, Postmodernismus - wohin mit einer neuen "Barockoper"? Dem historischen Betrachter stellt sich die Abendländische Musik seit dem frühen Mittelalter als ein natürlicherweise sinnvolles Ganzes dar. In jeder "neuen" Musik bis zum Anbruch des bürgerlichen Zeitalters ist das Gedächtnis der alten Satzkunst implizit enthalten, das tektonische Satzgefüge der Musik verliert nicht mehr als eine a posteriori empfundene Beschränkung.

Erst das Bürgertum, das die Vormachtstellung des Adels übernimmt, verliert oder verlöscht (1828 stirbt Franz Schubert) das Gedächtnis: An die Stelle der sofort dem in den freien Künsten unterrichteten Aristokraten einsichtigen Genese eines Stückes tritt - der Effekt. Der musikalische "Sinnträger" wirkt nur aus der Ferne betrachtet "natürlich", im Inneren ist alles Verweis und Polyphonie. Der alten Zeit ist noch wohlvertraut, daß es am Menschen gar nichts Natürliches geben kann, die Welt wird von innen betrachtet und verbirgt den wahren Betrachter als Geheimnis. Erst die Etablierung des Sentimentalischen als humanes Privileg überläßt den Menschen dem Pantheismus seiner eigenen "Naturhaftigkeit".

So gewinnt die Außenbetrachtung - auch der Musik - eine zunehmend eminentere Rolle, statt der handwerklichen ("artifiziellen") Konstruktivität betritt nun der Affekt die Bühne - der Naturalismus verlagert das Objektiv-Künstlerische hin zum privaten Erleben. Anstelle der diskursbedingenden Dignität des Wissens um etwas haben wir es nun mit einer bis dato unvorstellbaren Anonymität des Hörenden zu tun - einer Art "Universalismus" des Gefühlsempfindens.

Der Bürger ist der Anonyme, er weiß nicht mehr, woher er selbst kommt und begreift ein Werk nicht mehr aus einem Überlieferungszusammenhang heraus, sondern läßt eine Ausstrahlung auf sich wirken. Darin verliert sich allerdings die Prägnanz eines Signifikates, das Wort - das in der Alten Musik noch veritables Fundament ist - will keine luzide Ausdeutung mehr, sondern innige, erhebende, unbestimmbare Umhüllung. Bis dato Unkomponierbares wird plötzlich zum wesentlichen Bestandteil der neuen Kompositionen, etwa das genaue Tempo (man studiere nur Bachs Bearbeitungen seiner eigenen Konzerte oder Frescobaldis Vorworte zu seinen Orgelbüchern - es gab ja für diese Musik kein "richtiges", exaktes Tempo, sondern stets nur den immer variablen Pulsschlag, dasselbe Stück kann vom selben Spieler auf stets verschiedene Weise richtig musiziert werden) oder die satzprägende Dynamik mit ihrem auf äußere Wirkung bedachten Impetus.

Diese Oper ist mein Versuch, eine bestimmte Unmöglichkeit herbeizuzwingen - vielleicht gibt es ja wenigstens ein lustvoll-falsches Leben im wahren. Ich teile Günter Rupps wunderbaren Zwang, das Ichhaft-Vereinzelte aufgeben zu müssen (Feist: Verzweiflung (I), Rausch (II) und Wahnsinn (III)), auch indem man es zelebriert, und den Schmerz über den Verlust des Verpflichtend-Gültigen, das der abendländischen Kunst in der Zeit, die die Erlösung noch voraussetzte, stets konstitutiv vorausging. Ihm und seiner nie gebrochenen Aufrichtigkeit ist diese barocke Oper gewidmet.

Jury Everhartz