Der Infant - Überlegungen zum Kindlichen und zum Kindischen in der Musik

Das Kind betritt die Musikgeschichte als technisches Wunder. Nicht als Konsument eines Schlummerliedes, nicht als maßgebende Tanzbeinlänge, nicht als Moritatenopfer, sondern als dem soeben erfundenen Berufsmusiker meist weit überlegener Tastenbezwinger. Erst kurze Zeit zuvor bevölkerten die Erziehungsschriften der französischen Moralisten die Welt erstmalig mit dem individuellen Kind, das vor allem Anfang dem Zufall des ersten Werden oder Nichtwerdens, dem Zufall der Sicherheit der Familiengenealogie entrückt weden sollte. Mit Leopold Mozarts "Kindersinfonie" war den Erwachsenen der ewige Wert der Kindertruhe als galantes Vergnügen erschlossen.

Dass es sich dabei schon wieder um die Büchse der Pandora handelte, bemerkte man wohl erst, nachdem der eigene Lebensprozeß mit der Entdeckung des Individuums im kleinen Kind ins Blickfeld geraten war: anstelle der gewissermaßen ewigen Weitergabe familiären Erbes stand plötzlich Linearität, sich selbst behaupten müssende, und der eigenen Vergänglichkeit halber immer scheiternde. Der Rationalismus verwandelte in einem das von ihm gefundene Subjekt zum Objekt. Der bislang hauptsächlich um den Warenhandel kreisende Geschäftsgeist dringt in die Familienstrategien ein. Solange das Wunderkind, sozusagen skurriler Infant und Vorform des Genies, die Bühne beherrscht, ist die Kindheit noch nicht verloren, das Kindische noch nicht attraktive Absicht des Handelns und der faulen Erzeugung von Illusion.

Erst die Romantik entdeckt den Fetisch des Infantilen im Versuch, der von Max Weber beschriebenen "Entzauberung der Welt" zu entkommen. Während das Todessehnen Johann Sebastian Bachs noch ruhiges, gefasstes Entgegenwarten sein konnte, gebändigt von solchen Vorstellungen seiner Zeitgenossen, daß etwa, wer der Messe beiwohne, in dieser Zeit nicht altere, gestaltet sich der Trotz des zukuftsorientierten romantischen Technokraten in der Sehnsucht nach dem Unschuldsschlaf des träumenden Kindes, Melancholie des Kinderzimmerethos der Kinderszenen. Preghiera. Des bittenden Kindes. Die neue Einsamkeit des empfindsamen Klavierspieles schafft die Utopie des schon verlorenen Heimes, die Sehnsucht nach erster Unschuld produziert den Solipsismus aller Klavierfantasie. Das sich ins Kind zurückversetzende Empfinden erliegt schließlich den Allmachtsphantasien ungebändigter Pubertät, im Klavier entbergen sich alle Möglichkeiten orchestralen Klanges, bis die Moderne gar in die pränatale Suche nach dem kristallinen Ursprung des ganzen Systems kippt. Und im immer Kleineren immer Größeres will.

Der Genese dieser Partitur waren theoretische Überlegungen eher hinderlich als strukturell hilfreich, sie ist sozusagen "nur" von vorne nach hinten durchgeschrieben. Das von Dostojewski aufgegriffene infantile Element kapitalistischer Totalität trifft den Kern. So ist mir das Ganze zu einer Spieloper geworden, zu einer Verkettung beinahe maschineller Miniaturen mit allen Schattenwürfen der ganz großen Sehnsucht - weswegen die Klavierspieler natürlich eine Stimme bekommen haben. Viele der prägnantesten Formen der mir erschlossenen Musiken sind zitiert, manches beinahe schon instinktiv, anderes mit Absicht und sicherlich leicht durchschaubarer Intention. Manches mit - allerdings nicht diebischem - vorsichtigem Grinsen. Aber im letzten auf die Frage: "Warum nun die Klaviere?" nur die Antwort: "Es sind doch zwölf, Mutter."

Zwei Menschen waren es, zwischen denen die Oper entstand, die es sich gegenseitig nicht immer leicht gemacht, am Ende sich gar wechselseitig "Krokodil" genannt haben. Beiden bin ich zum tiefsten Dank verpflichtet; ohne beider Engagement wäre das Stück gar nicht entstanden, und ohne das von Ihnen erzeugte Spannungsfeld auch nicht so vielschichtig geworden: Kristine Tornquist, die es nicht lassen kann, den Ernst, und Alois Hofinger, der es nicht lassen kann, den Spaß an der Sache einzufordern. Ihnen beiden ist diese Oper gewidmet. Ein leidenschaftlicher Dank an Marino Formenti, dessen präzisem und bis zur Bilderbuchverzweiflung inspirierten Dirigat (samt seiner freundlichen, hellhörigen Ideen) diese Spieloper das Licht der Welt verdankt.

Jury Everhartz