Das Gilgamesch Epos

„Es sind kaum hundert Jahre her, dass der mesopotamische Gilgamesch entdeckt und in seiner Bedeutung erkannt wurde. Dieses Epos beginnt mit der Verwandlung des unter den Tieren der Wildnis lebenden Naturmenschen Enkidu in einen Stadt-und Kulturmenschen, ein Thema, das uns heute (…) erst recht angeht. Es mündet, da Enkidu seinem Freunde Gilgamesch wegstirbt, in eine ungeheure Konfrontation mit dem Tod. (…) Kein Werk der Literatur, buchstäblich keines hat mein Leben so entscheidend bestimmt wie dieses Epos, das viertausend Jahre alt ist und bis vor hundert Jahren niemand bekannt war.“ Elias Canetti (Der Beruf des Dichters, in: Das Gewissen der Worte, Fischer tb 1981, S. 284)

Die Geschichte des Königs von Uruk, Gilgamesch, und seines Freundes Enkidu ist einer der ältesten literarischen Texte der Menschheit. Sie wurde im 13. Jahrhundert v. Chr. in Mesopotamien aufgezeichnet und überliefert Erzählungen, die zurück bis in das frühe dritte vorchristliche Jahrtausend nachzuweisen sind.

Canettis Eindrücke beruhten, als er 1976 diese enthusiastischen Worte schrieb, auf der Fassung des Epos, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts in England bekannt wurde.

Als das Gilgamesch Epos 1872 in der Übersetzung von George Smith veröffentlicht wurde, war nur ein Teil der heute bekannten akkadischen und sumerischen Keilschrifttexte entschlüsselt, in denen die mythische Geschichte des altbabylonischen Königs Gilgamesch erzählt wurde. Seit 2003 liegt eine umfangreiche textkritische Ausgabe des Epos durch Andrew R. George vor, die den neueren deutschsprachigen Ausgaben, wie jener des Assyriologen Stefan M. Maul, zugrunde liegt. Diese haben die Textgestalt entscheidend erweitert und ermöglichen nun eine neue Sicht auf das Epos:

Gilgamesch, der König von Uruk, riesenhaft und schön, zu einem Drittel ein Mensch, zu zwei Dritteln ein Gott, vernachlässigt seine herrschaftlichen Aufgaben, die Stadt leidet unter seiner Willkür, so dass die Götter beschließen, ihn durch den Einfluss eines Gefährten zur Vernunft zu bringen.

Dieser Freund, Gefährte und Beschützer wird Enkidu, ein mit den Tieren lebender Mensch der Wildnis, der die Sprache der Tiere kennt und sich, wie sie, von Gras ernährt.

Schamchat, „die Üppige“, wird von den Göttern bestimmt, Enkidu in die Liebe und das kultivierte menschliche Leben einzuführen. Sieben Tage lieben sie sich, danach ist Enkidu der Wildnis entfremdet.

Enkidu erfährt von Gilgameschs Machtmissbrauch und ist empört, es kommt zu einem Kampf zwischen beiden körperlich ebenbürtigen Gegnern, der in ihrer Freundschaft einen glücklichen Ausgang findet.

Beide Freunde durchleben zahlreiche heroische Abenteuer, bis Gilgamesch Enkidu verliert, der an einer von den Göttern geschickten Krankheit stirbt.

Der untröstliche Gilgamesch begibt sich auf der Suche nach seinem Freund bis an den östlichen Rand der Erde zum  sagenhaften Zwillingsberg, der den Blick auf die Sonnenbahn freigibt.

Er sucht Rat bei Utanapischti, dem babylonischen Vorbild des biblischen Noah und Überlebenden der vorzeitlichen Sintflut und gewinnt zwar nicht den Freund zurück oder überwindet die Sterblichkeit, aber erlangt Erkenntnis über sein menschliches Dasein, mit dem Rat des Utanapischti: „Tue das, was eines Königs Pflicht ist.“

Am Ende seines Weges, am Ufer des unterirdischen Süßwasserozeans verwandelt er sich und findet wieder in die Welt der Menschen.

Zum Ende des Epos wird wie zu seinem Beginn die Stadt Uruk selbst vermessen:
Eine (ganze) Quadratmeile ist Stadt,
eine (ganze) Quadratmeile ist Aue,
eine halbe Quadratmeile der Tempel der Ischtar,
Drei Quadratmeilen und eine halbe, das ist Uruk, das sind die Maße.“

(Übers. Stefan M. Maul)

So schwingt im Epos die Geschichte der mesopotamischen Metropole Uruk mit, der Königstadt Gilgameschs, in der die Schrift entstand, als deutlichstes Zeichen einer hochkomplexen urbanen Organisation im vierten vorchristlichen Jahrtausend.

„Von einer Vorfreude auf Wiedervereinigung der Liebenden im Jenseits ist in dem ältesten Epos nicht die Rede. Doch wird die babylonische Kultur im Ganzen zum Resonanzraum für die Erzählung von heroischer Freundschaft, Verlustkatastrophe und Trauerfahrt.“ (P. Sloterdijk, Sphären, Suhrkamp 1999, S. 176)

Das Gilgamesch Epos hat seit seiner Wiederentdeckung Künstler wie Canetti begeistert und inspiriert, Rilke sprach von einem „Epos der Todesfurcht“, beide lasen vermutlich die 1916 im Insel-Verlag erschienene deutsche Übersetzung.

In den fünfziger Jahren schufen Bohuslav Martinu und Alfred Uhl Oratorien, die auf dem Epos beruhten, und Willi Baumeister setzte sich in einem Bilderzyklus mit dem Gilgamesch auseinander.

Isabelle Gustorff