Das Tagebuch der Anne Frank

1947 – fünf Jahre nach der ersten, drei Jahre nach der letzten Eintragung in ihrem Tagebuch wurde die erste Buchausgabe des Tagebuches der Anne Frank veröffentlicht. Die Autorin wäre damals 18 Jahre alt gewesen. Seither hat dieser Text aus dem tagebuchschreibenden Mädchen im Hinterhofversteck eines Amsterdamer Hauses eine biographische Ikone gemacht. Annes Bericht über das Leben im Versteck eines Amsterdamer Hinterhauses in völliger Isolation und ständiger Angst ist eines der erschütterndsten und bewegendsten Dokumente über das Leid der Juden in Europa, aber auch ein ermutigendes Zeichen des Lebenswillens. Ihr Wunsch, später einmal als Schriftstellerin tätig und anerkannt zu sein, hat sich allerdings nicht – oder nur auf diesem Umweg – erfüllt.

Im August 1944 wurden Anne und ihre Familie in dem Versteck entdeckt und in Konzentrationslager deponiert. Ermordet wurde sie in Bergen-Belsen im Alter von 16 Jahren im März 1945 - kahlgeschoren, ganz ausgemergelt und entkräftet, in Lumpen. Ihr Lebenswille war völlig gebrochen.

Nach der Verhaftung der Familie fand man zwischen Büchern und Zeitschriften das Tagebuch, das Anne seit ihrem dreizehnten Lebensjahr in holländischer Sprache geführt hatte.

Der Inhalt des Tagebuches bringt einen kleinen und subjektiven Ausschnitt aus dem Terror und dem millionenfachen Morden der Shoah, ist aber vielleicht gerade deshalb umso eindringlicher: weniger durch die beschriebenen Erlebnisse, Stimmungen und Ängste, sondern umso mehr durch das, was zwar ersehnt, aber nicht beschrieben wird, weil es nicht mehr erlebt wird. Das macht das Tagebuch der Anne Frank zu einem anklagenden Zeugnis ungelebten Lebens. Dass wir nicht einmal den Todestag im Konzentrationslager Bergen-Belsen wissen, macht dieses Schicksal vollends zum Symbol.

Tagebucheintragung vom 27. November 1943 (an die Freundin Hannah Goslar gerichtet, die den Holocaust überlebte):  Gestern, Abends spät, ich wollte gerade einschlafen, da sah ich plötzlich deutlich meine Freundin Lies. Wie sie da vor mir stand: Ganz ausgemergelt und entkräftet, in Lumpen... Trotz der Dunkelheit sah ich es genau, wie sehr sie abgemagert war. Ihre großen Augen, die schauten auf mich voller Vorwurf... Lies sah mich an, als wollte sie sagen: „Anne, rette mich aus dieser Hölle!“...  Und ich kann ihr gar nicht helfen. Ich kann nur zu Gott beten, dass er sie beschützen möge.