Thema Schuld. Ein Diagramm

Die Wahrheit ist die Offenbarung der Wirklichkeit (Alexandre Kojève, Hegel-Kommentar). Wer nicht glauben darf an die Wahrheit der Offenbarung durch (einen) Gott oder auf eine andere aparte Weise, muß sich in etwa an die Wissenschaft halten. Die sogleich fällige Diskussion des Wissenschaftsbegriffs muß dieser bloße Verortungsversuch freilich unterdrücken. Dialektik, die mit psychoanalytischer, linguistischer, literaturhistorischer, anthropologischer Erfahrung sich gesättigt hat, scheint der zeitgemäßen Entfaltung der philosophischen Gretchenfrage gewachsen. Der Entfaltung, sagen wir, indem keine Philosophie die Frage nach Wahrheit positiv beantworten kann, allerdings den Diskurs, das Denken so zu wenden, daß sein Problemcharakter verschwindet. Philosophie vermag unter bestimmten Voraussetzungen die Verwandlung unzufriedenen Wissens in eine Sicht der Dinge, welche deren Selbstverständlichkeit wiederherstellt auf anderer Drehungshöhe der dialektischen Spirale. Wie Kunst hat Philosophie ihre Wahrheit kaum an der Konstruktion von Bewußtseinsinhalten als vielmehr an deren spezifischer Konstellation (Form). Läßt philosophische Ambition ein solches Bewußtsein ihrer selbst zu, womit der größte Teil der Zunft gewiß nicht einverstanden ist, schon gar nicht in Anbetracht einer derartigen Einschätzung aus dem Munde eines sogenannten Dilettanten, erweist sich die Kluft zwischen der Offenbarung der Wirklichkeit kraft dialektischer Anstrengung und einer Wahrheit durch göttliche Offenbarung als keineswegs unüberbrückbar. Muß letztere als Mythos, als kollektive Dichtung sich zu erkennen geben, resultiert erstere in der Stiftung eines analogen Scheines. Einer Gewißheit, wie immer durchlässig für Wahrheit, einmal ganz abgesehen von gesellschaftlicher Durchsetzbarkeit. Es muß nicht gleich das absolute Wissen etc sein. Eher dürfte es sich handeln um etwas wie erneuerte Vitalität, Eros-Renaissance.

Wenn eine Entschuldigung angebracht ist für das vielleicht aberwitzig Flüchtige dieser Gedankenprovokationen, so leitet uns das über zur Schuld. Fragen wir das Wort. Die Antwort belehrt uns über eine Schuld im Sinne von Schulden. Wir hören die Rede von der Schuld als Ursache, Verantwortlichkeit. Und dieser sehr benachbart von der Schuld als Gewissensbiß. Die fundamentale Dimension der Schuld als Ursache einerseits und andrerseits die verstörende Macht der psychologischen Schuld lenkt unser Interesse auf den Zusammenhang der Bedeutungen. Vor dem Hintergrund der Psychoanalyse (Freud) und Hegels Spekulationen zur Genese des Ich (Phänomenologie des Geistes) stellt sich dem avancierten Diskurs die Schuld als Funktion eben der Ich-Genese dar. Demnach wäre Schuld die psychische Repräsentanz der fehlenden Anerkennung, worauf der Selbstbehauptungstrieb sich richtet. Übergehen wir im Sinne dieser knappen Skizze unter vielen anderen auch die Probleme der Intersubjektivität, gelangen wir in der Sphäre des Gesellschaftlichen auch zu einer Auffassung von Schuld als konstitutiv für das Kollektiv und als unabdingabr für dessen Unterhaltung (Totem und Tabu). Die Autorität, der wir etwas schulden, ist prinzipiell die der Arterhaltung. Hegels Beispiel von Herr und Knecht bleibt nicht dunkel wegen seiner psychoanalytischen Differenziertheit, sondern wegen der darunterliegenden Behauptung, die von Hegel analysierten Verhältnisse der Menschheitsentwicklung fänden Abschluß in einem Staat, den Napoleon als Konsolidierung der Revolution inauguriert hätte. Dementgegen scheint Utopia in weiter Ferne. Also der Bezug Ich - Autorität höchst prekär. So kann der gleiche Mörder als Held gefeiert oder auf den Elektrischen Stuhl geschickt werden.

Ob legistisch, moralisch schuldig oder nicht, die Tat hat ihr Ethos in der Schuld. Sie ist mehr als eine Figur des Bewußtseins, dafür konstitutiv. Spezifische Unterlassung verweigert die schuldige Tat, kompromittiert die Selbstbehauptung, mithin das Subjekt des unterlassenden Kalküls: das Ich. Hier eröffnet sich unserer kursorischen Reflexion das Feld, in welchem unser Hierlanda-Drama statthat: die Zweck-Mittel-Verwechslung im Mythos vom Leiden (Christi).

Günter Rupp