Die Presse - 29. August 2011, Wilhelm Sinkovicz (pdf)

Operntheater: Brotfabrik wird zum Tempel der Poesie

Orientalische Märchenpoesie und eine leere Expedit-Halle in Wien Favoriten – gibt es größere Gegensätze? Andererseits: Eine kluge Lichtregie zaubert mit ein paar warmen Rottönen auf die Rückwand einer Industriearchitektur von anno 1898 eine Kulisse, wie sie stimmungsvoller kaum zu denken ist.

Vielleicht ist das Ende des Sommers, wenn die Festspielprogramme allenthalben auslaufen, der ideale Termin, ein von teuren Kostüm- und Kulissenspektakeln verwöhntes, möglicherweise von diesen sogar schon übersättigtes Publikum in einen unschuldigeren Theaterzustand zurückzuführen. Weg jedenfalls von allfälligen Ärgernissen teuer bezahlter, überheblicher Regierohrkrepierer.

So versucht es das sirene Operntheater heuer mit einer ehrgeizigen Agglomeration von Uraufführungen im pittoresken Ambiente der alten Ankerbrotfabrik. Wo früher tagtäglich Zigtausende von Semmeln und Salzstangerln auf den Weg gebracht wurden, spielt man jetzt Märchenopern. Das ist eine Form von zivilisatorischem Endspiel, gewiss, aber es hat Charme.

Vor allem bekommen auf diesem Wege elf Komponisten Aufträge, kurze Beiträge zum Musiktheater zu liefern. Und da wir seit einiger Zeit die Unbilden der ästhetischen Diktate der Nachkriegsmoderne endgültig überwunden haben, passieren dann in einem solchen Rahmen Uraufführungen, die den Zuschauern auch Freude bereiten können. Ein Massenpublikum wird man auf diese Weise zwar vermutlich nie erreichen, aber eine hübsche Blüte treibt an der traurigen Mauer unserer Kultur-Ruinen. Über solche kleinen Wunder freut man sich ja in der Kunst wie in der Natur am allermeisten.

Also? sirene hat diesmal den Orient und orientalische Märchen als Bezugspunkt gewählt, nicht ohne zeitgemäße Beziehungen herzustellen, versteht sich. Und weil die Kunst des Erzählens nicht nur von Scheherazade 1001 Nächte lang praktiziert wurde, sondern als Träger der kulturellen Überlieferung entscheidend war, nimmt man in der Ära von CNN auch diese Tradition auf und lässt erzählen – immer vor den musikalisch-theatralischen Darbietungen gibt es Nachrichten und Geschichten zu hören.

Mehr oder weniger erfreulich, mehr oder weniger aktuell aus den Ländern importiert, in denen einstens die morgenländische Poesie einen Grundstock für die verträumte Märchenlust gelegt hat, die uns heute noch umfangen kann, wenn sich jemand aufs Erzählen versteht.

Nach politisch-kultureller Einbegleitung geht es denn auch los mit dem Fabulieren, in Bildern, in Klängen, mit oder ohne gesprochenen beziehungsweise gesungenen Text. Der Musiktheaterbegriff reicht diesmal von der veritablen Kurzoper zum Tanzstück. Und es darf sogar gelacht werden, wenn Akos Banlaky doch tatsächlich die Burka zum Thema einer Pantomime macht, in der sich eine Dame, umtrippelt von staunenden Leidensgenossinnen mit allerlei Puppenspielerversatzstücken in die virtuelle Nacktheit freispielt.

Die Musik dazu ist suggestives Crescendo, von Harfe, Schlagwerk und einigen Streicher- und Bläsersolisten vorangetrieben, raffiniert gebaut, wie alles, was am zweiten Abend dieser ehrgeizigen Unternehmung zu hören war, musiziert vom jungen Instrumentalensemble unter François-Pierre Descamps. Die musikalischen Ansätze der Komponisten sind so unterschiedliche wie die Sujets, die sie gewählt haben, René Clemencic kommt überhaupt mit Trompeten und Schlagzeug aus, schöpft Motive wie gewohnt aus Textbausteinen und findet zu mystisch-entrückter, kühler Sinnlichkeit.

Kurt Schwertsik erzählt die Parabel vom auf dem Markt geprellten Fischer (Erwin Belakowitsch singt ihn mit schönem, lichtem Bariton) in abgezirkelten Kleinformen, und man erinnert sich, dass er einmal eine „Schrumpfsymphonie“ komponiert hat. Hier kondensiert er Opernarien ins Liliput-Format – und schreibt so eingängige Musik wie, auf ganz andere, sehr rhythmisch betonte Weise, auch Lukas Haselböck: Er erzählt vom König, der seinen Wunderheiler kurzerhand köpfen lässt, weil er hinter dessen Geheimnis kommen möchte. Verlorene Tyrannenmüh, versteht sich.

Für solche Uninszenierbarkeiten, deren Libretti sie übrigens selbst gedichtet hat, ist Kristine Tornquist die ideale Regisseuse: Sparsam, aber mit Fantasie, die im Beschauer hie und da die kindliche Kasperltheaterfreuden wiedererwecken kann, lässt sie die von Markus Kuscher stilvoll gewandeten Darsteller agieren. Licht ist das wichtigste Dekor.

Ungewöhnliche Abende sind jedenfalls garantiert.

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