Der Standard, 21.5.2015, Daniel Ender

"Gilgamesch" in der Expedithalle: Bier, Götter und Gesang
Die Geschichte des sumerischen Königs von Uruk als Oper in Wien

Gilgamesch, König der sumerischen Stadt Uruk, gab einem der ältesten Texte der Literatur seinen Namen. Das gleichnamige Epos ist für René Clemencic "die ewige Geschichte des Ich, das im illusionären Zeitstrom zunächst seine maß- und schrankenlose Hybris auslebt, bis es durch die bestürzende Begegnung mit dem Du zu sich und zur Welt kommt". Größenwahn, Tod, der Verlust, Sinnsuche - das sind in seiner Lesart und in jener des sirene Operntheaters die Themen, mit denen der Held konfrontiert ist. Sumerische Quellen berichten davon, dass das Epos dem jeweiligen Herrscher vorgetragen wurde, wenn er bei Tisch saß und Bier trank - und zwar in Form des Gesangs.

Der Komponist, der vor allem als Aufführungspraktiker vom Mittelalter bis zum Barock bekannt ist, bekennt, mit seiner Musik "im Wesentlichen nichts wirklich Neues schaffen" zu wollen, "sondern nur bereits irgendwie Vorhandenes hörbar machen." Dies tut er vor allem auf Basis des Gesangs: Hier werden 16 Sängerinnen und Sänger aufgeboten. Clemencic faszinieren die Kabbala und andere zahlensymbolische Systeme. In seinem Gilgamesch ist es evident: Nicht nur das Kompositionsmaterial, auch die instrumentale Besetzung (das Rote Orchester, Dirigent François-Pierre Descamps) ist dadurch bestimmt, dass es in drei Fünfergruppen aufgeteilt wird. Librettistin und Regisseurin Kristine Tornquist verbindet das Epos mit anderen sumerischen bzw. akkadischen Mythen und Texten und lässt "moderne Götter die alte Geschichte kommentieren und gestalten".

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