Die Wiederentdeckung

Nach der Ausgrabung des Palastes des Assurbanipal in Ninive begann die wissenschaftliche Aufarbeitung der Keilschrifttafeln und von Bruchstücken der insgesamt zwölf zusammenhängenden Tontafeln, auf denen das Epos des mesopotamischen Dichters Sin-leque-unninni überliefert worden war, die man im Schutt der Bibliothek des Assyrerkönigs gefunden hatte.

Als das Gilgamesch-Epos 1872 in der Übersetzung von George Smith, einem Mitarbeiter des British Museums, veröffentlicht wurde, war nur ein kleiner Teil der heute bekannten akkadischen und sumerischen Keilschrifttexte entschlüsselt, in denen die mythische Geschichte des altbabylonischen Königs Gilgamesch erzählt wurde. Besonderes Aufsehen erweckten die Textpassagen, die auf der elften Tontafel aus der Erzählung entziffert wurden. Sie erzählen die Geschichte der großen Sintflut, die der weise Utanapischti mit seiner Familie und vielen Tieren auf einer Arche überlebte. Die Erzählung gleicht bis in das Detail der biblischen Geschichte des Noah.

Die Entdeckung war so überwältigend, dass, wie Augenzeugen berichten, der erhitzte Forscher Smith vor Aufregung begann, sich in der Bibliothek seiner Kleider zu entledigen. Die Diskussion seiner Forschungsergebnisse interessierte eine breite Öffentlichkeit, weit über das Fachpublikum hinaus.

Als Smith einen öffentlichen Vortrag über seine Entdeckung hielt, erschien unter anderem der britische Premierminister William Gladstone. In Deutschland nahm Kaiser Wilhelm großen Anteil an dem Fortschritt der mesopotamischen Ausgrabungen. Die Veröffentlichung der mesopotamischen Epen stellte die unverbrüchliche Autorität der biblischen Überlieferung der Anfänge der Menschheit grundsätzlich infrage und vertiefte damit die intellektuelle Erschütterung, die von den einige Jahre zuvor veröffentlichten Arbeiten Darwins ausgegangen war. (Eckart Frahm)

Noch bis vor wenigen Jahren glich das überlieferte Textkorpus „einem Buch, aus welchem insgesamt ca. ein Drittel der Seiten herausgerissen ist; wo in einem weiteren Drittel teils nochmals ein Drittel vom Rand abgeschnitten ist; wo Buchwürmer oder Zigaretten Löcher gefressen und Hauptwörter, Präpositionen,Verben ganz oder halb aufgefressen haben; wo Tintenflecken ganze Zeilen bis zur Unkenntlichkeit entstellt haben.“ (D. O. Edzard).

Dies hat sich inzwischen deutlich geändert. Seit 2003 liegt eine umfangreiche textkritische Ausgabe des Epos durch Andrew R. George vor, die den neueren deutschsprachigen Ausgaben, wie jener der Assyriologen Stefan M. Maul und Wolfgang Röllig, zugrunde liegt. Der britische Forscher hat in akribischer Arbeit weit verstreute Textfragmente des Gilgamesch-Epos auf Bruchstücken von Keilschrifttafel in den Museen der Welt gesammelt und transkribiert. Diese haben die Textgestalt entscheidend erweitert und ermöglichen nun eine neue Sicht auf das Epos.

Isabelle Gustorff