ff - Südtiroler Wochenmagazin 21/1998, 23.05.1998, Stefan Nicolini

Ein Unikum, deftig und sinnenfroh: Zur Erbauung und zum Seelenheil

Das spätbarocke Mysterienspiel "Hirlanda" aus Laas wurde zur Wiedereröffnung der Jesuitenkirche in Wien aufgeführt. Ein einmaliges Spektakel in der Tradition des barocken Jesuitendramas.

Ein Theaterereignis der besonderen Art fand letzte Woche in Wien statt. Die barocke Jesuitenkirche wurde Schauplatz eines religiösen Theaterspektakels.

Auf Betreiben des aus Naturns stammenden und im Jesuitenkolleg in Wien wirkenden Hannes Benedetto Pircher wurde zum Anlass der Wiedereröffnung der Wiener Jesuitenkirche, die von Grund auf restauriert wurde, die "Hirlanda", ein spätbarockes Mysterienspiel in der Jesuitenkirche nahe der Alten Universität neu inszeniert.

Das Besondere daran ist, dass der theatralische Text von einem adeligen Landherren aus Laas im Vinschgau, Joannes Udalricus von Federspill, im Jahre 1791 niedergeschrieben und anschliessend in der Laaser Dorfkirche insgesamt achtmal hintereinander aufgeführt wurde. Dann geriet die ehemalige Handschrift in Vergessenheit. Jahrzehnte stand das Buch, das im Besitz der Heimatbühne ist, in der Pfarrbibliothek von Laas unbeachtet im Regal, bis vor zwei Jahren Toni Bernhart, selbst Theaterautor und Germanist, die Bedeutung und den Wert der Handschrift erkannte und nun eine Edition derselben vorbereitet.

Hirlanda, die Figur der unschuldig verfolgten Frau, war im 17. und 18. Jahrhundert ein in Europa weit verbreiteter Topos und rangierte in den Bestsellerlisten ganz oben. Das Stück spielt um 1550 in der Bretagne. Von dort fand es den Weg über Frankreich auch in den süddeutschen Raum, wo es die Jesuiten als Lesedrama oder Theaterspektakel aufführten. Vorrangiges Ziel war die religiöse Erbauung des einfachen Kirchenvolkes. Diesem wurde überdeutlich vor Augen geführt, wohin untugendhaftes Verhalten führte. Nämlich in die Hölle.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Hirlanda, Königin der Bretagne. Sie wird von ihrem Ehemann König Artus, der in den Krieg zieht, schwanger zurückgelassen. Der englische König liegt im Sterben dun kann nur durch das Blut eines adeligen Kindes gerettet werden. Prinz Gerald, der selbst den Thron besteigen will, besticht Amme und Vertraute der Fürstin, ihren Sohn gleich nach der Geburt zu entwenden, um ihn zu opfern und den sterbenden König zu heilen. Inzwischen rettet aber auf Geheiss eines Engels Abt Pertrandus den kleinen Prinzen, bringt ihn zu sich und erzieht ihn.

Als Artus an den Hof zurückkehrt und Hirlanda ihm keinen männlichen Erben schenkt, ist er bereit den Verleumdungen seines Bruders Gerald zu glauben. Hirlanda wird der Untreue bezichtigt und mit dem Flammentod am Scheiterhaufen bestraft. Doch mit Gottes Hilfe kann sie ihr leiblicher Sohn befreien. Artus erkennt seine Fehler und beschliesst zusammen mit der unschuldig leidenden Hirlanda zugunsten seines Sohnes auf seinen Thron zu verzichten, um in die Einöde zu gehen und Busse zu tun. Diese Handlung ist im Dialog zwischen Kristus und der Seele Hirlandas eingewoben. Sie nehmen Zukünftiges vorweg und kommentieren bereits Geschehenes.

Wie damals in Laas wird auch bei dieser Aufführung der gesamte Kirchenraum zur Spielfläche. Den einzelnen Figuren werden - ganz in der Tradition mittelalterlicher Mysteriendramen - im Raum bestimmte Spielflächen zugewiesen. Das Weltengetümmel auf dem Segelschiff vor dem Altar, die himmlischen Figuren im Deckenraum, die Hölle im Orgelbereich am Kircheneingang. Die Figuren stellen keine differenzierten Charaktere dar, sondern stehen ohne innere Entwicklung für bestimmte Geisteshaltungen. Es gibt die moralisch Guten und die Verwerflichen, die es bis zu ihrem bitteren Ende auch bleiben. Alles untersteht einer gewissen Gesetzmässigkeit, die der moralischen Bedeutung des Ganzen unterliegt und dem geschlossenen Wertesystem des Mittelalters entspricht. So folgt die Dramaturgie der Tradition des mittelalterlichen Mysterientheaters und andererseits aber auch der Idee einer modernen Simultanbühne.

Vor dem Altar beherrscht ein Schiff mit zwei Segeln und einem neun Meter hohen Mast den Raum. Der Rumpf besteht aus rot-weiss-roten Holzbalken, die von Baustellen stammen. Hoch oben in den Mastkörben stehen Kristus und die Seele Hirlandas, die mit ihrem lang fallenden weissen Kleid ihre metaphysische Herkunft symbolisieren.

An Deck spielt sich das weltliche Geschehen ab, den Kircheneingang hingegen beherrschen Luzifer und seine Teifl. Sie geben den Blick frei auf eine bunte, skurrile vergangene Zeit. Da zieht Hirlanda mit einem Korpus auf dem Rücken als Zeichen der Busse durch die Kirche. Da fährt Olifa (Edwin Hirschmann), ein dem König treuer Höfling, mit dem Fernglas in der Hand auf der Suche nach Hirlanda auf dem Fahrrad durch die Kirche. Da spielen Soldaten mit Fahrradhelmen und nummerierten Spielertrikots mit dem Wickelkind Hirlandas Rugby. Da tollen die von Luzifer (Herbert Adamec) angetriebenen Teufel mit ihren grellroten Spitzhörnern (zwei am Kopf und einen am Genitalbereich) durch das Kirchenschiff, um den in einem Käfig schmachtenden Missetätern mit rauschenden Percussion-Rhythmen den Garaus zu machen und ihnen den Kopf abzuschneiden.

Diese Form des Theaters als Theater der Sinne diente den Jesuiten der Mission christlicher Wertvorstellungen, die im Dienste der Gegenreformation stand. Gut und Böse waren klar definierte Grössen, das Seelenheil anzustrebende Maxime.

Die erste Frage, die sich dem Btrachter stellt, ist jene nach dem Sinn und den Möglichkeiten der Aufführbarkeit. Im ausgehenden 20. Jahrhundert sind bis dahin klar definierte Begrifflichkeiten wie Liebe, Treue, Ehre ins Wanken geraten. Das alte Wertesystem, das dem moralischen Regelkodex des mittelalterlichen Menschen entsprach, wurde durch die Aufklärung und Säkularisation aufgeweicht und abgeschafft.

Für den heutigen Zuschauer schwer verständlich ist die Haltung Hirlandas, die obwohl an allem unschuldig, ihrem Gemahl trotzdem folgt und mit ihm Busse tut. Obwohl die Neuinszenierung unserer Zeit angepasst wurde und die Strichfassung von Regisseurin Kristine Tornquist auf Nebenhandlungen und redundante Stellen verzichtete, blieb dieses Element bestehen. Von den sechs Stunden Originalzeit fiel die Hälfte dem Rotstift zum Opfer.

Die zweite Frage, die zu stellen ist, ist jene der Inszenierbarkeit einer verschollenen Theatertradition. Natürlich konnte nicht die Originalsprache und Authentizität der Aufführungspraxis eins zu eins umgesetzt werden. Die Burgschauspieler Ute Springer als Hirlanda und Lutz Blochberger als König Artus spielen ihre Rollen überzeugend, doch wurde dabei eines klar: Der Zwiespalt zwischen moderner Interpretation und der historischen Aufführungspraxis zeigt sich am besten in der Tatsache, dass die Schauspieler keine Typen oder besser gesagt Zustände darstellen, sondern eben Charaktere, Individuen, wie sie der moderne Mensch auf der Bühne erlebt. Das Erbe des 19. Jahrhunderts, die psychologisierende Interpretation war deutlich spürbar.

Auch die Musik von dem in Wien lebenden Berliner Komponisten Jury Everhartz bewegte sich auf einer sehr suggestiven und tonalen Ebene. Das Wesen der Musik bleibt eine reine Funktion dessen, was im Kontext der Bühne passiert: minimalistisch, harmonisch, den theatralischen Duktus unterstreichend.

Wenn auch ganze Textpassagen durch die schwierigen akustischen Vorbedingungen für den Zuseher unverständlich sind, so vermag die Aufführung nicht zuletzt durch die ausgefeilte Lichttechnik von Philipp Harnoncourt eines doch zu vermitteln: die ausgeprägte Sinnenfreude, die im Barock vorherrschte. Und jene kann auch von einem modernen Menschen nachvollzogen werden. Ein Unikum, ein Kuriosum allemal. Ob das Stück demnächst auch in Südtirol aufgeführt wird, steht noch nicht fest. Allein der Gedanke ist reizvoll, und würde sich eine Pfarre bereiterklären, der Theaterskandal wäre vorprogrammiert.

Andere Kritiken