An Jeanne und Gilles

Jeanne, habe ich den Mut so viel wie du zu glauben? Den Mut zu erkennen, dass ich nicht alles weiß, eigentlich nicht viel und sicherlich nicht genug, um eine Oper zu schreiben und es trotzdem tue? In voller Akzeptanz meiner Naivität? Ich wünsche mir, ich hätte deinen Charakter. Du setzt deinen Willen gegenüber Militärstrategen durch und du gewinnst heldenhaft viele Schlachten… bis das Schicksal dich einholt und du auf den Scheiterhaufen steigen musst… Arme Jeanne.

Gilles, habe ich die Fähigkeit so viel wie du zu lieben? Die Fähigkeit, eine poetische Musik zu komponieren? Du bist der Urtyp des Romantikers. Für dich bedeutet Liebe alles, seit du Jeanne begegnet bist. Du folgst ihr in die schlimmsten Schlachten bis zum Gehtnichtmehr, da du nicht geboren wurdest, um so viel Abscheu zu ertragen. Dich holt das Schicksal ebenso ein und führt dich zum kompletten Zerfall… Armer Gilles.

Neben euch und euren Gefährten ziehe ich in den Krieg und nehme elf Bogenschützen, eine Trompete und einen Trommelspieler mit.

Ich verspreche euch viele Farben dank unseren alten Modi und anderen, aus der ganzen Welt, manchen sogar erfundenen, diatonischen oder chromatischen heptatonischen Folgen, die eine reine Quint über dem Grundton besitzen: das sind die Farben der Musik.

Die tonale Musik ist wegen der Überbeanspruchung des Leittones zu einer monomodalen Musik geworden - außer der dritten Stufe sind Dur und Moll der tonalen Musik eigentlich gleich - und einerseits wegen des funktionalen Denkens der Harmonik in den Eintopf der Chromatik gefallen, bis sie zum Brei der Atonalität geworden ist. Übrigens: ist nicht Atonalität eine Art Hypertonalität? Jeder Ton ein Leitton? Jeder Leitton löst sich in einen Ton, der wiederum Leitton des nächsten wird? Unlösbare Spannung? Andererseits hat sich die tonale Musik bis zur Farbenvulgarität in der U-Musik vereinfacht.

Ich weiß ja, wie viele Meisterwerke wir diesem Tonsystem verdanken!

Wir alle suchen aber neue Wege in die Zukunft unserer Kunst, nicht wahr?

Meine Musikwelt ist weder tonal noch atonal, sondern modal oder sogar polymodal. Hoffentlich farbenfroh!

Tonal ist nicht, was nicht atonal ist. Tonal ist ein kleiner Teil der riesigen Welt des Modals!

Also höre ich auf, mich von den Pseudofunktionen der klassischen Harmonik treiben zu lassen, das ist nachlässig und bringt die Musik nicht weiter, und versuche aktiv polyphonisch, polymelodisch zu denken. Eine neue Harmonik wird folgen! Das ist Freiheit!

Ansonsten verlangt die Zukunft der Musik einen Kampf gegen die Mechanisierung und die Vergitterung des Rhythmus. Die Klassik hat uns die Gewohnheit gebracht, Taktstriche zu zeichnen, quasi bevor die Noten geschrieben wurden. Der Rhythmus wurde als Division großer Notenwerte konzipiert, einerseits bis zur höchsten Komplexität gewisser Werke der zeitgenössischen Musik, andererseits bis zur verblüffenden Langeweile vieler Songs der U-Musik. Was für einen quadratischen Tanz logisch war, das hat keinen Sinn mehr für eine Erzählung, ein Gebet, ein Drama, ein Gedicht. Andererseits bringt die Addition und die Kombination von kurzen und langen Schritten (im Verhältnis zwei zu drei) eine unendlich rhythmische Vielfalt. Hoffentlich wird meine Musik dadurch zur Kurzweil gemacht!

Ihr habt verstanden, es interessiert mich nicht, im Dienste einer stets vergehenden Modernität die alte klassische Welt systematisch subversiv zu dekonstruieren. Die Antike, sowie die echte traditionelle Musik der Welt, aber auch viele Werke von toten oder lebenden Tonsetzern bieten mir genug Material, um meine künstlerischen Probleme zu überwinden.

Danke Jeanne, danke Gilles! Wie ihr beide beharre ich auf meiner Naivität. Und werde weiter so kämpfen und komponieren. Meine Musik bringt mir Freude.

Euch auch?

François-Pierre Descamps | Partitur | pdf