Julia Reichert

Reichert, Julia

Regisseurin, Autorin und Puppenspielerin.

Julia Reichert, 1950 als Tochter des Schauspielers Willy Reichert und der Schauspielerin Elisabeth Amann in München geboren, ist künstlerische Leiterin, Bühnenbildnerin, Autorin, Regisseurin – kurzum Prinzipalin – ihres 1989 in Graz noch unter dem Namen „Julia Reichert's Kabinetttheater“ zusammen mit Christoph Widauer gegründeten Kabinetttheaters Wien.

Nach einigen Semestern an der Münchner Journalistenschule und einem freiwilligen sozialen Jahr in einem Krankenhaus in Ebersberg bei München u.a. Ausbildung auf dem zweiten Bildungsweg zur Bibliothekarin und Leiterin der Münchner Autorenbuchhandlung am Wiener Platz.

Mit dem österreichischen Schriftsteller Helmut Eisendle 1973 Umzug nach Norditalien: Dort begann Julia Reichert mit dem Bau von mechanischen Figuren und Musikautomaten.

1980: Erste Ausstellung anlässlich des „Nihilistenkongresses“ im Goethe-Institut in Triest. Es folgen viele weitere Ausstellungen, z.B. „Sati(e)re“ 1982 in Graz, mit einem Vorwort von Wolfgang Bauer im gleichnamigen Katalog. Erste Buchveröffentlichung: „Gedichte aus Asche“, Ullstein Verlag 1973.

Von klein auf eng mit dem Münchner und dem Salzburger Marionettentheater vertraut und durch einen Besuch in Moskau im Theater des Sergej Obrazov endgültig „angesteckt" gründete sie 1979 das Kabinetttheater in Graz, das in den ersten Jahren u.a. im Forum Stadtpark auftrat und 1996 nach Wien in eine ehemalige Fabriksetage im Alsergrund übersiedelte.

Julia Reichert hatte schon sehr früh Kontakte zu Autorinnen und Autoren: Sie waren es, die – angeregt von Julia Reichert – anfingen, für die spezifischen Mittel des Figuren- und Objekttheaters Stücke zu schreiben.

Im Kabinetttheater treten Figuren („bewegte Sachen“) neben SchauspielerInnen und MusikerInnen auf. Von Beginn an war es das einzige Figurentheater im deutschsprachigen Raum, das einen eindeutig literarischen Schwerpunkt hatte. AutorInnen wie H.C. Artmann, Peter Ahorner, Thomas Arzt, Lucas Cejpek, Franz Josef Czernin, Gundi Feyrer, Natascha Gangl, Gerhard Kofler, Stephan Lack, Rosa Pock, Gerhard Rühm u.v.a. haben im Auftrag des Kabinetttheaters Stücke geschrieben. Durch einen Minidramen-Wettbewerb 2011, an dem sich weit über 100 Autorinnen und Autoren beteiligten und in dessen Rahmen 5 Stücke ausgewählt und uraufgeführt wurden, hat sich diese Liste noch vergrößert: Das Repertoire umfasst inzwischen über 60 Minidramen, die einen Bogen von der Jahrhundertwende bis zur Jetztzeit beschreiben. Theaterminiaturen z.B. aus dem Expressionismus, dem Dadaismus, der russischen und polnischen Avantgarde, dem italienischen Futurismus und von der Wiener Gruppe wurden zur Aufführung gebracht.

Zahlreiche Tourneen führten das Kabinetttheater in das deutschsprachige Ausland, z.B. nach Erlangen zum „Poetenfestival“ und anlässlich des österreichischen Buchmessenschwerpunkts (2000) in mehrere Literaturhäuser und Universitäten.

2002/3 reiste das Kabinetttheater nach Thailand und Korea.

Die Libretti der Musiktheater-Produktionen, die den zweiten Schwerpunkt des Kabinetttheaters bilden, stammen u.a. von Autoren wie Apollinaire, Dylan Thomas und Alfred Jarry und sind, wie auch viele der Minidramen im Kabinetttheater, der literarischen Moderne Anfang des 20. Jahrhunderts zuzuordnen.

Zeitgenösisches Musiktheater: hier arbeitete sie mit Künstlerinnen und Künstlern wie Olga Neuwirth, die etwa H.C. Artmanns „Punch und Judy“ für das Kabinetttheater zu einer halbstündigen Mikro-Oper vertont hat, Wolfgang Mitterer, Ernst Kovacic, Marino Formenti, Eugène Michelangeli, dem Ensemble „MUNDART“, „PHACE Contemporary Music“, „Collegium Novum Zürich“, „Klangforum Wien“, „sirene Operntheater“ und anderen.

In der „Hölle“ des Theaters an der Wien zeigte das Kabinetttheater fünf Musiktheaterproduktionen in den Jahren 2007 bis 2010.

Fest im Repertoire ist das dadaistische „Krippenspiel“ von Hugo Ball: Mit dieser Produktion hat das Kabinetttheater seinen Einstand in Wien gefeiert; es ist jährlich in der Adventszeit zu sehen und hat einen Fixplatz im Wiener Theaterleben erreicht.

Julia Reichert trat 2010 zum ersten Mal mit dem Stück „Für Elise. Dialog für 1 Stimme“ als Theaterautorin und Puppenspielerin auf. Sie leitet ein festes Team von vier SchauspielerInnen/PuppenspielerInnen, mit denen sie in drei Neu-Inszenierungen pro Jahr (und zahlreichen Wiederaufnahmen der vielen erfolgreichen Inszenierungen der letzte Jahre) zusammenarbeitet. Daneben sind im Kabinetttheater immer wieder künstlerische Gäste zu erleben. Unter ihnen gibt es eine langjährige Zusammenarbeit u.a. mit dem Schauspieler Wolfram Berger, den Musikern Oskar Aichinger, Bartolo Musil, Christian Bakanic, sowie der Musikerin Maja Osojnik und der Schriftstellerin Natascha Gangl, aber auch vielen anderen.

Seit 2007 arbeitet sie u.a. mit ihrem Bruder, dem Regisseur Thomas Reichert, zusammen.

2004 erhielt das Kabinetttheater den Nestroy-Preis für den Minidramenabend „Sündenfälle - ein Abend zur Osterheiterung"

2005 erschien der Sammelband „Niemand stirbt besser. Theaterleben und Bühnentod im Kabinetttheater“, hrsg. von Alexandra Millner, im Sonderzahlverlag Wien.

2012 war sie beim Bundeskanzleramt als Mentorin bei „Mentoring für KünstlerInnen“ eingeladen.

Seit 2016 ist Julia Reichert Jurorin beim „H.C. Artmann-Preis“ der Stadt Wien.

Julia Reichert ist der Bezug zu ihrem Bezirk, dem Alsergrund, in dem sie seit 1996 lebt und arbeitet, sehr wichtig. (Das Loft in der Porzellangasse ist Wohnung, Werkstatt, Proben- und Aufführungsort zugleich). So entstand z.B. 2014 die Produktion „Die gelbe Straße“ von Veza Canetti, deren Handlung in der nahen Leopoldstadt und am Donaukanal angesiedelt ist. Zur Zeit wird im Kabinetttheater eine Bühnenversion des Romans „Zwischen 9 und 9“ (UA: November 2019) von Leo Perutz erarbeitet, dessen Wohnsitz sich u.a. in der Nachbarschaft (Porzellangasse 37) befand.

2020 feierte das Team des Kabinetttheaters den 30. Geburtstag des Theaters mit einem Reigen von Festvorstellungen.

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