Kronenzeitung - 11.01.2013, Ernst Trost

1+1=1

Wie in einer neuen Welt kam ich an, als ich per U-Bahn irgendwo in Meidling in einer spannenden Wohnlandschaft des neuesten Wien das Palais Kabelwerk suchte, um dort zu erfahren, wie es ist, wenn zwei Körper, zwei Herzen und eine Seele sind: das fiktive Schicksal siamesischer Zwillinge, die in vollkommener Übereinstimmung leben und all die anderen bedauern, die abgetrennt und einzeln abgefüllt in ihren Sack aus Haut, jeder für sich allein atmen müssen.

Das Idyll dieser perfekten Zweisamkeit wird in Kristine Tornquists und Gernot Schedlbergers (Musik) kühner Kammeroper „MarieLuise“ durch Politik und Medien brutal zerbrochen. Weil die Parteimanager sie für ihre Propaganda manipulieren, und die Ärzte bei einer Trennungsoperation mehr an den eigenen Ruhm als an die Menschen denken, wird die Satire zur Tragödie. Nur eine der beiden überlebt, in einer leeren, tauben Nacht.

Sind nicht auch die Partner einer Zweierkoalition wie siamesische Zwillinge? Um zu überleben, hängen sie aneinander. Und sobald sich einer profilieren will, geht das meist auf Kosten des anderen. Vor Wahlen möchte sich jeder vom anderen befreien, der Stärkere werden und alleine weitermachen. Doch beide müssen ums Überleben bangen.

Solange die Koalition funktioniert, gilt 1+1=1 wie bei „MarieLuise“. Wenn die Partner jedoch nicht mehr miteinander können, steht ein mahnendes 1-1=0 auf der Tafel, zumindest für einen der beiden Zwillinge...

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