Opernwelt, August 2009, Gerhard Persché

Nachts in der Brotfabrik (...)

Dass auch anspruchsvolle Projekte sich der sinnenfrohen Erfahrung nicht verschließen müssen, ohne einer von Einfaltquoten bestimmten «Culture light» auf den Leim zu gehen, bewiesen in diesem Sommer zwei Projekte der freien Wiener Musiktheaterszene. (...)

Als Aufführungsort von «Nachts», eine von Ende Mai an über neun Wochenenden verteilte musiktheatralische Aktion, wählten das sirene Operntheater und seine Leiterin Kristine Tornquist die 2000 Quadratmeter große Expedithalle einer ehemaligen Brotfabrik in Wien-Favoriten. Neun Wiener Komponisten, darunter der als Leiter von Musica Antiqua bekannte René Clemencic und der Robert-Saxton- und Hans-Zender-Schüler Wolfram Wagner, nahmen sich Kapitel aus dem Novellenroman »Nachts unter der steinernen Brücke» des jüdischen Schriftstellers Leo Perutz (1882-1957) zur Folie von jeweils einstündigen Kammeropern (Tornquist schrieb die Libretti dazu).

Perutz’ Roman reiht fantastische Geschichten aus dem Prag der Renaissance aneinander, ist dabei modern in der differenzierten Schilderung einer Stadt, die ihre multikulturelle Balance nur mühsam findet. Häufig erscheinende Protagonisten des Romans und der Opern sind der legendäre Rabbi Loew (Dimitrij Solowjew), der jüdische Kaufmann Mordechai Meisl (Johann Leutgeb) sowie Kaiser Rudolf II. (Rupert Bergmann), dessen Sammlerleidenschaft sich in diversen «Wunderkammern» manifestierte.

So sind auch die Aufführungen mit Ausstellungen von solchen Wunderkammern verbunden, ungewöhnlichen Sammlungen von Krimskrams bis zu Pilzen und Makrostaub. Und Kristine Tornquists erfindungsreiche Inszenierungen greifen den Wunderkammergedanken ebenfalls durch überdimensionierte, mobile Sammlerkästen etwa als des Kaisers Schlafstatt oder Mordechai Meisls Haus auf. Das Kammer-«ensemble on_line», geleitet zumeist von François-Pierre Descamps (der auch als Komponist eines Abends in Erscheinung trat) widmete sich den neun so unterschiedlichen und doch atmosphärisch einander verwandten Partituren mit Hingabe.

So lebendig kann Oper sein.

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