Pozzos Kuppel, Deleuzes Falte

Die Wiener Universitätskirche ist nach jahrelanger Arbeit fertig restauriert. Anlass, Idee und Situation der Produktion ist diese Kirche.

1996 entdeckt der Südtiroler Schriftsteller Toni Bernhart in Laas im Vinschgau: Hierländä: durch falschheit zu feir verdamte unschuld, 1791. Wenn schon unternommen sein muss: natürlich, eine alte Handschrift!

Was also begonnen hat, seit Mai 1997, ist die Geschichte dieser Handschrift mit dieser Kirche, die mehr und mehr einander darzustellen verlangten. Zum Beispiel: Materie und Form hat Pozzo durch Material und Kraft ersetzt. Das ist Theatermaterial und Seelenkraft. Das ist die Seelenkraft unserer Hirlanda.

Die Kirche, ihr Inhaltsuniversum, als Netz von Interpretamente organisiert, entscheidet definitiv über die Eigenschaften der Heils- und Unheilsfiguren unserer Hirlanda, indem den Figuren dieser und kein anderer Ort zugewiesen wird als es der Fall ist. Was auf welche Weise der Fall ist, sagt die Kirche: David besiegt Goliath, nicht Goliath Davd, usw.

Fast als ob der Regie lediglich die Aufgabe zukäme, Typen hier oder dort zu installieren, auf dass sie funktionieren als das, wofür sie zu stehen haben.

Die Handschrift und der Kirchenraum, nicht zuletzt als Verkündigungsraum der Jesuiten heute, erzeugen nun aber jenen kontextuellen Druck, welcher die Regie aufs Tollste herausfordert.

Verstärkt wird dieser Druck durch den Bezug auf Rahmen, die der Text vorgibt, - Rahmen, die nicht nur festlegen, worüber gesprochen wird (über Gut und Böse zum Beispiel), sondern auch, zu welchem Zweck darüber (über Gute und Böse) gesprochen wird.

Mit der Wahl eines bestimmten Interpretationspfades unternimmt nun die Regie die schwierige Aufgabe, eine Hirlanda zu illustrieren, die nur "funktionieren" kann in einer Kirche, die ihr Inhaltsuniversum bereits erfolgreich illustriert hat.

Der alte Pozzo, er hat das gelernt, verlässt das Zentrum des Kreises, er sucht den Fluchtpunkt der variablen Krümmung. Gilles Deleuze hat der Frage, ob der Barock überhaupt existiert habe, zu antworten gesucht, indem er einen Begriff fand, der dem Barock Existenz verleihen würde (oder nicht): die Falte. Die Welt ist Kegel oder Kuppel. Ihre Basis, Basis des Theaters, dehnt sich ins Unendliche aus, bezogen nicht auf ein Zentrum, sondern auf eine Spitze. In die Spitze, in den Gesichtspunkt zu geraten, ist das barocke Glück: unsere Kirche hat dieses Glück sichtbar bezeichnet mit einer weissen Platte im Mittelgang, auf die man sich stellen kann.

Gesichtspunkt (Augpunkt) meint nicht Variation (Falte) der Wahrheit je nach Betrachter, sondern ist die Bedingung, unter der dem Betrachter die Wahrheit einer Variation sich zeigt. So die von der Spitze des Kegels ausgehende alternierende Reihe der Kegelschnitte (endlicher Punkt, unendliche Gerade, endlicher Kreis, unendliche Parabel, endliche Ellipse, unendliche Hyperbel).

Die Hirlanda, der Gerald, die Fredegundis, der Filander, der Prinz. Was ist mit ihnen? Nur ein Gesichtspunkt gibt uns die Fälle und die Antworten. Jedes Individuum drückt dieselbe Welt in ihrer Gesamtheit aus, alles, was der Fall ist.  Adam der Sünder ebenso wie Jesus der Erlöser. Adam ohne Sünde und Jesus der Erlöser gehen nicht zusammen. Adam ohne Sünde und Jesus ohne Erlösung gehen zusammen. Adam ohne Sünde ist zwar möglich, aber nicht wirklich.

Das barocke Unternehmen weiss, dass die Welt die beste aller möglichen Welten ist. Freilich ist diese Welt ein Elend. Dafür (!) gibt es aber Prinzipien und deren Vervielfältigung. Man wird Prinzipien erfinden müssen. Man wird das Recht fahren lassen und universal rechtsprechen.

Die Falte der Seele ist ihre Neigung, nicht Schicksal, nicht Bestimmung. Die Verdammten sind nicht ewig verdammt, sondern immer fähig zur Verdammung. Die Seligen sind nicht immer selig, sondern immer fähig zur Seligkeit. Man muss nicht verdammt sein, man muss nicht selig sein. Man ist es einfach. Das ist die herrliche Freiheit des Barock.

Hirlanda wurde erfunden, bevor sie je geschrieben wurde. Freilich erlangen wir die ganze Unschuld dieser ersten Erfindung nicht wieder. Die erste Erfindung einer Seligen, immer fähig zur Schuld, immer fähig zur Unschuld.

Alles ist immer dasselbe. Alles ist immer unterscheidbar durch Grade (der Vollkommenheit). Der Unterschied ist unendlich, die Falte ist unendlich. Alles ist gleich - bis auf die Grade der Vollkommenheit (Kegelschnitte), bis auf Devisen, Embleme, Unterschriften.

Hannes Benedetto Pircher