Die Beobachter dessen, der sich im Kreis dreht

Während Sisifos seit fast dreitausend Jahren gleichbleibend den Stein wälzt, haben sich seine Zuschauer seit dem Altertum laufend verändert, und mit ihnen die Rezeption des Mythos.

In den griechischen Erzählungen steht noch die dramatische Heldengeschichte dieses „Schlauesten unter den Menschen“ im Vordergrund. Die Strafe im Hades ist nur der krönende Abschluss und die Pointe eines zu ehrgeizigen (und in der Wahl der Mittel bedenklichen) Menschenlebens.

Eingriffe in den göttlichen Masterplan werden bestraft, das war die Märchenmoral von Sisyphos' Geschichte - wenn man überhaupt eine suchte. Doch bereits in Rom wurde sein Heldenleben von der Strafe im Hades überschattet, er fand zwar auch in der Diskussion um Unendlichkeit und Weiterleben nach dem Tod als Sinnbild der Vergeblichkeit Verwendung, zumeist aber diente er in Komödien als bärenstarke Witzfigur - ein geschundener, aber zu seinem Leidwesen unsterblicher Gladiator.

Im Mittelalter liess sich die „Qual des Sisyphos“ - also des herabrollenden Steines - wunderbar als anschauliches Bildnis des Büssers in der christlichen Hölle gebrauchen. Oder gegenteilig als Beispiel eines tapferen Christen, der allen gewichtigen Versuchungen zum Trotz den Stein seines Glaubens unermüdlich nach oben gen Himmel rollt.

Das Barock bediente sich zwar seiner, um Liebesqualen einen würdigen Namen und Rahmen zu geben, aber erst ab dem 18.Jahrhundert wurde er wieder wirklich interessant, nun verlagerte sich der allerdings der Schauplatz: nicht länger kämpfte Sisyphos auf metaphysischem Feld, nun war er in den Webereien, in den Kohlegruben und Maschinenhallen der industriellen Revolution in seinen Krieg gegen die Schwerkraft des Geldes eingespannt - von den Göttern des Kapitals. Die andauernde Last und der pausenlose Arbeitstag standen im Blickpunkt. Seine Unsterblichkeit hatte sich darin sozusagen auf ein kurzes, freudloses Menschenleben verkürzt, das ein und denselben Tag wiederholte, bis es in der Anstrengung aufgerieben war.

Aber auch ein privilegierter Geistesarbeiter wie Goethe verglich sich mit Sisyphos, denn sein Mythos war bereits das Bild der Arbeit an und für sich und ist es bis heute geblieben.

Aus diesem lange gängigen Blickwinkel des Armutsforschers wandte erst Camus 1942 wieder die Aufmerksamkeit fort, als er den schuftenden Sisyphos einen „glücklichen Menschen” nannte und damit den Blick auf den Tagesbeginn des Loops lenkte: auf den scheinbar gegen jede Vernunft unternommenen Neubeginn - ein existentialistischer Meisterkniff zur Überwindung der Sinnfrage: gegen jede Vernunft trotzdem weiterzumachen erweist sich letztlich als das Vernünftigste. Erstmals taucht damit auch eine gewisse Freiwilligkeit im Zwang auf, die den Mythos zum beliebten Topos der Sinndiskussion machte.

In den 70ern wich die Camus'sche Bewunderung - unter anderem mit dem Verfall des realen Kommunismus und anderer Fortschrittsideologien - einer gewissen Ernüchterung. Der DDR-Maler Wolfgang Mattheuer liess in seinen Bildern Sisyphos dem Stein frech davonlaufen oder gegen ihn in Sitzstreik treten - nicht nur als Sinnbild der Befreiung des Arbeiters in Selbstbestimmung. Denn schon bald darauf wird der Zwang selbst in Frage gestellt. Wer ist es, der Sisyphos in sein Loop zwingt - etwa er selbst?

An der Grösse seines Steins und an der Höhe des Berges wird ebenso gezweifelt wie an seinen Motiven. Er wird der Vortäuschung falscher Tatsachen und der Ruhmsucht verdächtigt - erstmals findet der Sisyphos-Mythos also nicht mehr in der luftleeren Experimentierkammer des  Mythos statt, sondern ganz weltlich und unter Rückwirkung der Beobachtung. Der Mythos als ein mediales Ereignis.

Daraus folgend konnte sich der Verdacht etablieren, dass Sisyphos doch nur ein Narr, ein Loser sei, dessen Heldentum ausschliesslich in blödem, sturem Spezialistentum bestehe - etwa so wie eines Telefonbuch-Zerreissers aus „Wetten dass“, der auf seiner sinnlosen Tätigkeit besteht, weil er nichts anderes mit sich anzufangen weiss.

Peter Maiwald formulierte es hart: „Kein Mitleid mit dem / Beim dritten Mal lässt man's / oder beim siebten bei langer Leitung“.

Hans Magnus Enzensberger schreibt Anweisungen an Sisyphos: „Freu dich nicht zu früh, das Aussichtslose ist keine Karriere.“

Martin Walser stellt seine Motive infrage: „Wenn es nicht die Erfolglosigkeit ist, die Sisyphos zwingt weiterzumachen - wofür am meisten spricht - dann ist es die Rekordsucht, die ihn stimuliert.“

Lutz Rathenow verschreibt dem armen Verrückten eine Arbeitstherapie: „Geben wir ihm eine Aufgabe. Täuschen wir sie notfalls vor.“ Und so weiter.

All diese boshaften Kommentare sind wohl unter dem Aspekt zu verstehen, dass es in Wahrheit keine Alternative zu Sisyphos gibt. Weder für die Beobachter - Botho Strauss schreibt in einer Passage über eine weibliche Sisyphos-Figur: „Wir Erzähler geraten zunehmend unter Zwang, da es uns nicht gelingt, sie von ihrer steten Wiederkehr abzuhalten.”

Noch für die Sisifosse selbst - wie im Gedicht von Margarethe Hannsmann:

Als wir jung waren / Sahen wir zu / Wie er den Stein emporwälzte / Lachten / Wenn er von vorn anfing / Wie es oben beschlossen / Später als unsere eigenen Steine / Herabrollten / Erinnerten wir uns.

Kristine Tornquist | Vollständiger Text