Bemerkt uns nicht! Vergesst uns nicht!

Musiktheorie.

Etwas fehlt. Etwas fehlt noch vor allen untauglichen Versuchen - was denn wohl zu tun? Sie wollen, soweit sind sie intakt. Aber nicht tempus perfectum, die Moderne scheint des Überbrückbaren verlustig gegangen zu sein. Die grossen Welterklärungen brauchten die Drei, die Vollendung. Was haben nun ein Kopf und ein Körper miteinander zu schaffen? Sie können nicht sprechen und sich nicht überwältigen, weder Transformation noch Ereignis scheinen möglich in diesem Hotel. Nur dem Triplum konnte in irgendeinem Sinn etwas gelingen, sei es die Trinität, Gott - Mensch - Welt, Natur - Verstand - Gefühl, These - Antithese - Synthese oder Ich - Es - überich. Die Zunahme der Gewalt ist unübersehbar, die Kraft des Dritten verblasst im Lauf der Geschichte. Nun kommt die Stunde der Kleingeister, die zusammenkoppeln, was nicht mehr gelingen kann. Die Katastrophe ist das Ende des Dreisatzes in Volk, Reich und Führer.

Der beginnende Verlust des Triplum, der die zweidimensionale Moderne einzuleiten beginnt, war noch im 17. Jahrhundert von der Musik gedeckt. Hier konnte die ehemals göttliche Musik der Sphärenharmonien noch den Platz der "Sprache der Natur" übernehmen: und diese war - nach Rousseau - das Wahre. In der Nachahmung der inneren Natur war die Verbindung noch eine vom Kopf zum Körper, Universalsprache, nicht Tanz. Der Mensch war gut von Natur, schön und "volkswirtschaftlich sinnvoll" (Manfred Angerer). Das Dritte war die Universalgrammatik, die Musik selbstverständlich eine Sprache, Trägerin eines Affektes. Der Körper rächt sich für seine Unterwerfungen, zwar möchte er im 19. Jahrhundert auch sprechen, aber je intensiver der Versuch wird, umso mehr misslingt das Vorhaben.

Der Bedeutungsgehalt eines Musikstückes wird wörtlich genommen, Fanatismus des Konvertiten. Schon die aufklärerische Behauptung des Kopfes, der Wiener Klassik also, das Verständnisvolle im Menschen zu betonen, musste den im "Alle Menschen werden Brüder" erstickenden Körper zur Revolte treiben. Das untergehende Dritte blieb noch immer das Echte, nur schwermütiger. Das Verheimlichte des egalisierten Körpers zwang den Kopf ins Prokrustesbett.

Unterbewusst schwelt und feuert es, Wagner feiert seine Eruptionen. Aber nun wird es wirklich gefährlich: in der rettungsvoll schnaufenden Geisterseherei und Frömmelei des Kopfes und der schon futuristengefährlich ermüdenden Überspanntheit des Körpers erscheint der Kollaps. Die Musik hat dieser Körper zur absoluten erklärt, die nicht mehr sagmächtig ist des Textes wegen, der ihre Rhetorikfähigkeit unter Kopfägide begründet hatte - sondern seiner inneren Allgewalt wegen, die aber längst keine rhythmische mehr ist. Schönberg startet als das der Menschheit vorauseilende atemlose Genie im Geist der Romantik. Aber die Lust des Körpers ist ausgebrannt und abgenützt. Auch der Kopf ist müde und gealtert, das Dritte und nun Verschwindende ist in Gegenwart und Zukunft nur noch die Vergangenheit. Der letzte Glaube ist schon Altersstarrsinn, der Konflikt hat sich überholt, weil nicht einmal mehr der Streit sich behaupten kann.

Bildung war einmal das Wissen um die Alten, dann eine Fähigkeit, dann eine Selbstreflexion, die das Ganze verdaut hat, nun eine Verweigerung. Der Sinn ist in den musikalischen Strukturen der Zwölftonschule bereits "gleichermassen ausgesprochen wie abwesend" (Angerer). Die in eines oder eben aber auseinanderlaufende Entwicklung, dem Expliziten nichts mehr, dem musikalisch Impliziten aber alles zuzutrauen, sich immer verschraubter ins Innen zu wenden, artet jugendstilhaft bald ins Komische aus, weit zieht die Musik sich vom einfachen Text zurück, Kopf und Körper werden sich fremd. Das reine Ereignis beansprucht alles und irgendwie für sich, das Dritte ist verschwunden, die beiden anderen sind in wechselseitiger Negation das Gleiche geworden. Einer benutzt den anderen zur Abwehr: Sprachwürste beginnen sich um einen braunen Plumpudding zu wälzen, das Innerste des Kunstwerkes verteidigend (das ja nicht mehr mit uns spricht), ohne das aber nicht einmal die Reflexion noch möglich wäre, eine unmoralische weil unverbindliche Liaison. Glauben! nach Schauen, das Genie feiert fröhliche Urständ«: Sinnfrei wollen wir leben!

Weit wichtiger wird die Tatsächlichkeit der sich ereignenden Kommunikation, die Avantgarde beginnt, in einer bedeutungsfreien kommunikativen Lebenspraxis aufzugehen. Ich weiss nicht, ob die Sprache ein Verweis auf das Triplum ist oder es selbst, jedenfalls ist sie der Raum dafür. "Die musikalische Erregung kommt gerade daher, dass der Komponist in jedem Augenblick mehr oder weniger wegnimmt oder hinzufügt, als der Zuhörer erwartet, im Glauben an einen Plan, den er zu erraten meint, den er aber nicht zu durchschauen vermag aufgrund seiner Gebundenheit an eine doppelte Periodizität: an die seines Brustkorbes, die von seiner individuellen Natur, und die der Tonleiter, die von seiner Erziehung abhängt.

Bald sind wir bewegt, bald gezwungen, uns zu bewegen, und immer jenseits dessen, was wir, allein, zu leisten uns fähig glaubten. Das ästhetische Vergnügen besteht aus dieser Vielfalt von Erregungen und Aufschüben, von enttäuschten und belohnten Erwartungen." (Lévi-Strauss). Das vielleicht bei Schubert Erfahrene scheint generaliter zu gelten. Zwei Artikulationsebenen sind von Bedeutung, eine syntaktische (die Töne selbst stehen in ihrer apriorischen Auswahl ausserhalb der Welt) und eine zweite, persönlichere, auf der ein Komponist mit der ersten umgeht, sie erfüllt oder stört. Ohne das scheint es unmöglich, in andere als die eigenen Bewusstseinsprozesse einzudringen. Die Verhaltung des Kopfes darf keine alles begründen wollende, die des Körpers keine alles zu vereinen suchende sein.

Bemerkt uns nicht!

Vielleicht heisst der Kopf unseres Dilemmas etwa Pierre Boulez: "Das Denken des Komponisten, das eine bestimmte Methodologie benutzt, schafft jedesmal wenn es sich ausdrücken will die Objekte, derer es bedarf, sowie die zu ihrer Organisation notwendige Form." So, genau so wird das Verstehen von Musik, das immer ein Drittes (oder eben gerade nicht) kennt, immer mehr zu einer Angelegenheit des Komponisten, der als Einziger das Universum der Töne in sich zu fassen imstande ist, und das Hören, das auf keinen Fall von der Drei weiss, elementar-expressiv.

In der klassischen Architektonik der Form sind alle darin enthaltenen sprachlichen Elemente immer auch ausserhalb des Wahrnehmungsmomentes gegenwärtig. Der Kopf kann hier bleiben, während der Körper herumspaziert; die Musik ist eine Zeitvernichtungsmaschine, so stark ist das Dritte. Nun scheint die Erzählung sich in reine Ereignishaftigkeit gewandelt zu haben, Mikrostrukturen aus der Mitte des musikalischen Materials heraus sind eben keine Strukturen mehr, oder nur mehr kristalline, wir sind den "unhörbaren Strukturen der selbsterschaffenen Musik" schon ganz nahe. Die Zeit erwacht von neuem als Abfolge-Zeit, wiederum gewalttätig behauptet im Tripel Raum - Klang - Zeit. Alles will sich immerzu selbst thematisieren und dionysisch das Leben als Ganzes übernehmen.

"Die Musik unterwirft sich nunmehr der Zeit (die sie ja in sich integriert hatte), sie lässt sich selbst gehen, beobachtet ihr eigenes Leben." (Mario Bartolotti)

Vergesst uns nicht!

Vielleicht heisst der Körper unseres Dilemmas etwa John Cage: Die Musik "ist, wie immer auch, eine Bestätigung des Lebens" oder eben "schlicht ein Weg, zu dem Leben zu erwachen, das wir leben." Auch das Mitfühlen von Musik scheint gebrochen in solcher Anordnung des Zufalls, der Deckungsgleiche von Kunst und Leben, der Auslöschung der Subjektivität. Wieder wird das Dionysische etwas zu dicht - und es ist etwas im Subjekt, das seiner Auslöschung entgegenarbeitet. Auch hier wächst nichts über sich hinaus. Kopf und Körper wollen einander bedingen und einander ausschliessen. "Und etwas zu machen heisst, es zu zwingen.

Ich habe keinen Ausweg gefunden aus diesem Dilemma." (Morton Feldmann)

Schiff und Segel

Ein Schiff ohne Segel, das sein Kapitän, überdrüssig, dass es nur als Brücke dient, aufs offene Meer gesteuert hat, in der geheimen Überzeugung, dass er, wenn er das Leben an Bord den Regeln eines minutiösen Protokolls unterwirft, die Besatzung von der Sehnsucht nach einem Heimathafen und einer Bestimmung ablenken wird... Die vorgeschlagene Umkehrung ist weit radikaler: einzig die Fahrt ist real und nicht die Erde, und die Stra§en sind durch die Regeln der Navigation ersetzt... es könnte also sein, dass die serielle Musik zu einem Universum gehört, in dem die Musik den Hörer nicht auf ihre Bahn mitziehen, sondern sich von ihm entfernen würde. Vergeblich würde er sich bemühen, sie einzuholen: jeden Tag käme sie ihm ferner und unerreichbarer vor. Bald zu weit entfernt, um ihn zu erregen, würde allein ihre Idee  noch erreichbar sein, ehe sie sich schliesslich ganz unter dem nächtlichen Gewölbe der Stille verliert, wo die Menschen sie nur noch als kurzes, flüchtiges Funkeln erkennen werden.

Etwas fehlt also in diesem Hotel. Anima forma corporis.

Jury Everhartz