Die Tonkunst, Oktober 2008, Nr. 4 / Band 2, Barbara Preis

Grigori Frid: Das Tagebuch der Anne Frank. Monooper in zwei Akten, aufgeführt zu ihrem Geburtstag im Wiener Jugendstiltheater

Am 12. Juni 2008 wäre Anne Frank 79 Jahre alt geworden. Keine Ausnahme mehr für unsere Gesellschaft. Doch Anne Frank starb im Alter von 16 Jahren. Im Konzentrationslager Bergen-Belsen, "kahlgeschoren, ganz ausgemergelt und entkräftet, in Lumpen", wie das Programmheft des sirene Operntheaters zu berichten weiß.

Geboren wurde Anne Frank bekanntlich 1929 in Frankfurt am Main. Otto Frank, der Vater, reagierte unverzüglich auf Hitlers Machtergreifung in Deutschland 1933 und begann sich in den Niederlanden ein neues Geschäft aufzubauen, die Familie folgte ihm 1934. 1942 war die Situation für Jüdinnen und Juden auch in den Niederlanden ausweglos geworden, die Familie Frank bezog ihr Versteck, und damit begann eine Zeit der Angst, der Anspannung, des Wartens, der Langeweile.

Der Komponist Grigori Frid vertonte 1969 20 Tagebucheintragungen - insgesamt 21 Episoden, da den Tagebucheintragungen ein Vorspiel vorangeht - von Anne Frank für Klavier und Gesang und nannte es schlicht: "Das Tagebuch der Anne Frank. Monooper in zwei Akten". 1972 erfolgte die Uraufführung der Orchesterfassung für 26 Musiker, und 1999 bearbeitete Frid die Partitur für neun Soloinstrumente.

Das Jugendstiltheater und das sirene Operntheater führten die Fassung für neun Soloinstrumente zum Anlass von Anne Franks Geburtstag am 14. und 15. Juni 2008 im Jugendstiltheater in Wien auf. Die solistische Besetzung bestand aus den Instrumenten Flöte, Klarinette, Fagott, Violine, Violoncello, Kontrabass, Schlagwerk, Trompete und Klavier sowie einer Sängerin, der Sopranistin Nina Maria Plangg. Geleitet wurde der Abend von Jury Everhartz, Regie führte Kristine Tornquist, die Begründer des sirene Operntheaters. Das karge Bühnenbild, das aus einem Kasten bestand, der je nach Tagebucheintrag verschiedene Formen annahm und immer wieder neue Gegenstände zum Vorschein brachte, stammte von Jakob Scheid.

Die Einträge des Tagebuches bestimmen die Form dieses Ein-Frau-Musiktheaters. Jede Eintragung besticht durch andere Klangfarben, Rhythmen und Dynamik, dem Inhalt, der Stimmung und Emotion Annes Text entsprechend. Grigori Frid wählte eindrückliche Zeitpunkte aus dem Tagebuch. Am Beginn steht Anne Franks Geburtstag, das am meisten beachtete Geschenk: ein Tagebuch. Chronologisch geht es weiter mit der Beschreibung des Schulalltags, dem immer öfter zu Hause bleibenden Vater, der Vorladung der Gestapo, dem Bezug des Verstecks. Dann folgt ein Stillstand in der Handlung. Denn es gibt keine Bewegung mehr, nur Warten. Anne und ihre Familie warten, ab nun folgen die Eintragungen aus dem engen Versteck. Die letzte Episode des Monodrams, gleichzeitig die letzte Tagebucheintragung von Anne Frank, verdeutlicht die Motivation Annes, mit der sie die erdrückende Situation zu bewältigen suchte. "Nicht den Mut verlieren. Schwache fallen um, die Starken werden standhalten. Mit Freuden bin ich bereit, mich aufzuopfern für die Zukunft. Und wenn der liebe Gott mich am Leben lässt, dann werde ich für die Menschen arbeiten. Und nun weiss (sic!) ich, dass Tapferkeit und Lebensfreude das allerwichtigste bedeuten. Auf Reichtum und Ruhm kann man wirklich verzichten. Der Seelenfrieden kann jedoch nur für kurze Zeit veblassen, denn er wird wieder erwachen und uns ein Leben lang erfüllen mit Glück. Solange schauen wir ohne Furcht in den Himmel...". Ende des Tagebuchs.

Das Vorspiel erklingt schrill, dynamisch reichhaltig, dramatisch, es ist klar, daß diese Geschichte nicht gut enden wird. Und dann Annes Geburtstag, die Freude über das Tagebuch, neue Klangfarben. Am eindringlichsten gestalten sich die Episoden des Wartens, der Stille und der Langeweile. Auf eine Tafel schreibt Anne Frank die zu erledigenden Tagesaufgaben: "Kartoffeln schälen, Warten, Geduld". Es handelt sich immer wieder um diese drei Tätigkeiten, die von Anne anfangs noch motiviert und beschwingt niedergeschrieben werden. Doch mit der Zeit wird es schwer, sich eine positive Einstellung zu erhalten. Immer und immer wieder Kartoffeln, endloses Warten, woher die Geduld nehmen? Lautmalerisch untermalt das Ensemble Annes Tätigkeiten und Stimmungen. Regen wird hörbar, oder ist es die Zeit, die das Schlagwerk ticken lässt? in einer Episode imitiert Anne einen Streit der Eheleute van Daan, die Musik wird schrill, jähzornig. Anne steigert sich in den Streit hinein, ihre Stimme wird lauter, abgehackt und zum Teil kreischend.

Grigori Frid konzentriert sich auf die individuelle und subjektive Wahrnehmung einer Person; der Krieg und alle anderen äußeren Geschehnisse werden ausgeblendet. Die Konzentration liegt auf dieser einen Person und reicht in dieser Minimierung der Handlungsstränge völlig aus, um Mitgefühl, aber auch Unbehagen zu erzeugen. Die Besetzung für neun Soloinstrumente und eine Sopranistin erscheint dabei ideal für diese Unternehmung. Sie gewährt die optimale Balance zwischen Orchester und Sängerin, ermöglicht feinfühliges Zusammenspiel, ein reiches, aber differenziertes Klangfarbenspektrum, bleibt klar und geradlinig und erspart pathetischen Habitus und überladene Dynamik. Nina Maria Plangg versteht es, das Mädchen darzustellen. authentisch spielt sie den jugendlichen Übermut, quetscht sich in ihrer Angst in den Kasten, wird rastlos in ihrer Langeweile. Ihre ausgezeichnete Stimmbeherrschung erweckt Anne Frank zum Leben. Das Ende des Stücks ist, wie kann es anders sein, bedrückend. Es bedarf keiner Statisten. Anne geht ab, es ist still, und man kann jeden Atemzug hören. Der stockfinstere Aufführungsort überlässt es den Zuhörenden, sich den Abtransport in das Konzentrationslager und die dortigen Geschehnisse, die Otto Frank als einziger der Familie überlebte, vorzustellen.

Nach der gelungenen Aufführung wurde zu einem Empfang geladen. Geburtstagstorte wurde angeboten und, wie könnte es anders sein, Kartoffelsuppe.

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