Soll & Haben

Beginnt das Leben mit Soll oder mit Haben? Mit einer Bringschuld oder mit einem Vorschuss? Je nach Leben vermutlich und vor allem je nach Betrachtungsweise.

Bei Perutz scheint das Schicksal die Bank zu sein, seine Protagonisten sind Schuldner, die sich schwer freikaufen können und sich in den Zinsen ausbluten. Im Roman „Nachts unter der steinernen Brücke“ gibt es kaum eigenwillig Handelnde, alles scheint Reaktion und Defensive. Einzig der hohe Rabbi Loew, der durch seine kabbalistischen Einblicke Zugriff auf die Maschinenräume des Schickals hat, entscheidet in freiem Willen und greift gegen das Vorbestimmte in das Räderwerk ein. Er rettet den judenfreundlichen Kaiser auf seinem Umzug durch die Judenstadt vor einem Attentat, das für die Prager Judengemeinde schreckliche Folgen nach sich gezogen hätte. Ein kabalistischer Schem verwandelt den Stein, der Rudolf treffen soll, in zwei Tauben, die in den Himmel fliegen. Kein Zweifel, dass die Absichten des Rabbi vorausschauend, gut und klug waren. Und doch lässt Perutz aus dieser Entscheidung einen Rattenschwanz von Fehlern und misslingenden Korrekturen erwachsen und eine absurd hoch verzinste Schuld bei der Vorsehung entstehen, die die gesamte Judenstadt zu bezahlen hat. „Du hast in den Plan der Schöpfung eingegriffen und das Gleichgewicht der Welt gestört.“, erklärt der Maggid, ein lehrender Engel, dem schuldbewussten Rabbi. Der Rabbi, der das Gute wollte, hat unversehens das Böse bewirkt - allein dadurch, dass er gehandelt hat.

Wenn es auf den ersten Blick erstaunt, dass Perutz diesen Roman von 1924 bis 1953, als rund um ihn die Welt des Judentum in Scherben geschlagen wurde, im distanziert historischen Stil geschrieben hat, in dem sich aktuelles Geschehen kaum spiegelt, erkennt man auf den zweiten Blick eine abgrundtiefe Desillusioniertheit / abgrundtiefen desillusionierten Fatalismus. Keiner entkommt dem unbarmherzigen Rad des Schicksals - bei Perutz ein Hybrid zwischen Mystik und mathematischer Logik - weder die Täter noch die Opfer, weder die Dummen noch die Klugen, weder die Grausamen noch die Unschuldigen. Allesamt sind Spielfiguren im Schachspiel, das eine höhere Macht mit sich selbst spielt. In einer anderen Novelle des Romanes lässt Perutz den traurigen Mordechai Meisl grübeln: „Ist mein Unglück im Plan der göttlichen Weisheit notwendig gewesen, um eines anderen Menschen Glück zu begründen? Wer weiss es? Wer kann es sagen? Der Meerestiefe gleich ist Gottes Recht.“

Bei Perutz beginnt das Leben mit einem Soll. Nur durch die Erkenntnis, das man sich darein fügen muss und das Schicksal auf sich zu nehmen hat, lässt sich die rästelhafte Schuld bezahlen.

Kristine Tornquist