Macht und Ohnmacht

Die Natur (oft verborgen unter ihren Götternamen) schuf den Menschen mit einem Bewusstsein für die Zeit.

Mit der Vergangenheit hält er das mächtige Werkzeug des Gedächtnisses und der Überlieferung in seinen Händen, das Werkzeug seiner beschleunigten Entwicklung und seines Siegeszuges über die Mitbewohner auf der Erde.

Die Zukunft aber, die er vermutlich als einziges unter den Tieren empfindet, bedroht ihn mit dem Tod.

Gilgamesch, jung und noch jenseits des Zeitempfindens, erhebt den Kopf, schaut zu den Sternen auf und lässt seine Stirn in ihrem Widerschein glänzen, bis die Natur ihre Macht beweist. Ihre Gesetze sind stärker als die stolzeste Hybris, stärker als der, der sich als zwei Drittel göttlich bezeichnet.

Er begegnet dem Tod und ist ohnmächtig. Angesichts des Todes verlangt er daher vom Leben mit einem Mal einen Sinn. Die Vergänglichkeit war wohl das erste intellektuelle Problem der Menschheit. Ihre grossen kulturellen Entwürfe — Mythen und Religionen —  sind Versuche, es zu lösen und einen Sinn zu behaupten, der stärker ist als der permanente umwälzende Hunger der Natur.

Das Bemerkenswerte am Gilgamesch-Epos ist, dass es keine einfache Antwort gibt. Gilgamesch bekommt einige Kompromisse angeboten, aber er nimmt sie nicht an, sie  stellen ihn nicht zufrieden. Weder Demut vor den Göttern, noch Lebenslust oder Lebenspflicht überzeugen ihn. Das phantastische Kraut der Unsterblichkeit, das er am Ende seiner Reise doch noch erringt, verliert er aus Unachtsamkeit an die Schlange. (Woran werden wohl die Genetiker auf der Suche nach dem Unsterblichkeitsgen ihr Rezept verlieren?)

Der Held vollbringt die Heldentat nicht, wie es die Hollywood-Dramaturgen heute verlangen würden. Er findet kein happy end. Bis zuletzt hadert der depressive König mit dem Schicksal des Menschenlebens und kann so über alle Zeit-, Religions- und Kulturgrenzen hinaus als Prototyp der denkenden, zweifelnden, suchenden Menschheit gelten. Denn diese Kränkung ist nicht gerächt und wird es wahrscheinlich auch nie sein.

Doch gerade diese Demütigung menschlicher Hybris ist der Motor der Kultur.

Hier muss ich kurz persönlich werden. Wenn ich als Kind allein zuhause war, setzte ich mich gern vor die Bibliothek meiner Eltern, schaute mir die Buchrücken an und imaginierte, was sich darin verbergen könnte. Die Autoren stellte ich mir wesenlos und zeitlos vor — Geist ohne Körper — und doch Seelen wie ich. Denn soviel begriff ich schon: alle Fragen, die mich bewegten, würden hier eine Antwort finden.

Ab und zu zog ich ein Buch in meiner Reichweite heraus, las einige Zeilen, steckte es wieder zurück und liess ein anderes darauf antworten. So gewann ich das berauschende Gefühl, in einem riesigen, endlosen, geheimnisvollen Gespräch längst verstorbener Autoren zu sitzen, das immerfort und zu jeder Zeit weitergehen würde und in dem auch ich — was für ein tröstlicher Gedanke — jederzeit gastlich willkommen war, unter denen ich nie mehr einsam sein würde.

Ausserdem eröffnet dieses vom eigenen Leben unabhängige Gespräch ein eigenes Universum voller Parallelwelten eigenster Zeitmessung, das einen kritischen Gegenentwurf zur nicht besten aller Welten schafft. Darin kann sich das zu stolz geratene Menschengehirn seiner schöpferischen Hybris straflos hingeben und sich als zwei Drittel Gott fühlen, unsterblich sein.

Die Kultur ist ein Trost. So persönlich ist dieser Trost aber nicht. Jeder Leser, jeder Kultur- und Wissenshungrige kennt wohl diese Vorstellungen, auch wenn das grosse babylonische Sprachen- und Gedankengewirr inzwischen kein Papier mehr braucht.

Und jeder Schreiber, jeder Denker, jeder Forscher hat aus diesem Gewisper der Erzählungen den Anstoss erhalten, selbst in diesen Papierwald hineinzurufen, seine  Auflehnung gegen die Zumutungen des Lebens hineinzuschreien, eine eigene, neue Deutung des alten Problemkomplexes zu versuchen oder Fragen zu stellen, auf die ein anderer irgendwann Antwort geben sollte.

Gilgamesch hat dieses Gespräch eröffnet, er ist der älteste Rufer unserer Kultur, die auf der Überzeitlichkeit der Schrift beruht.

Alles, was darauf folgte, ist wie eine Antwort auf ihn, oder eine Antwort auf Antworten auf ihn und seine Sinnfrage, in einem immer verzweigteren und komplexer werdenden Gespräch. Denn sowohl die hebräische als auch die griechische Kultur — die Ursuppe der europäischen Kultur — sind Nachfolger der mesopotamischen Kulturen, deren ersten Anstoss die rätselhaft erfindungsreichen und begabten Sumerer gaben.

Seither sind viele Rezepte entwickelt worden: Religionen erfanden das Weiterleben in einer Unterwelt oder einem Himmel, endlose Wiedergeburt, Fortbestand im Ahnenkult, Wissenschaft versprach Sieg über die Natur, Philosophen und Politiker empfahlen Flucht und Leugnung durch Phantasie, radikal diesseitige Lusterfüllung oder glaubten an Verbesserung des Diesseits — alle diese Ansätze sind auch im Gilgamesch-Epos schon angedeutet.

Doch da keiner dieser Bannsprüche gegen den Tod hilft, da nichts davon vor dem Risiko des Lebens rettet, wird weitererzählt, weitergedacht und weiter Heilsgeschichten und Trauerklagen phantasiert werden müssen.

Kristine Tornquist