Vortrag von Christian Reder im Wiener Planetarium 19.11.2022

Um zum Oratorium KABBALA von René Clemencic sprachliche Assoziationen zu liefern, haben mich die Veranstalter aufgespürt, weil sich in meiner umfangreichen, weiter erhältlichen Studie WÖRTER UND ZAHLEN. DAS ALPHABET ALS CODE dafür Anregungen finden müssten. Wie von der KABBALA werden darin hunderte merkwürdige Wortbeziehungen behandelt, die sich auf berechenbare Weise direkt aus dem Alphabetsystem ergeben – als Fragen danach, was dennoch sinnvoll erscheinen kann.

Das Buch erschien Anfang 2000, genau 100 Jahre nach Freuds „Traumdeutung“. Das hat mich damals amüsiert, war ich doch auf ganz andere, strikt mathematische Weise darauf aus, auf Basis des Alphabets Rationales und offenbar Irrationales, Zufälliges mit einander in Beziehung zu setzen. Denn als Schreibendem begannen mich noch vor der Suche nach dem jeweils richtigen Wort dessen Grundelemente zu interessieren: DIE EINZELNEN BUCHSTABEN – analog zu TÖNEN und NOTEN in der Musik, die ebenfalls zugleich mit Buchstaben bezeichnet werden.

Um das in unserem Schriftsystem analysierbar zu machen, setze ich die 26 Buchstaben schlicht mit ihrem STELLENWERT IM ALPHABET gleich, also A=1, B=2, C=3 bis Z=26. So werden Buchstaben zu Zahlen und berechenbar. Aus ihrer Summe ergibt sich für jedes Wort, für jede Wortfolge ein Zahlenwert – ein Code – der es mit anderen Wörtern auf ungewohnte Weise verbindet.

Phasenweise war das über Jahre eine Manie, weil mich Listen mit berechneten Wörtern überrascht, beruhigt und auf andere Gedanken gebracht haben. Das konnte ich schließlich so schnell rechnen, dass ich sofort die entsprechenden Zahlen parat hatte, ob für BILD, HAND und CODE 27, für BUCH 34, für MANN 42, für FRAU 46, für SPIEL 61, für UNSINN 91, für WELT, ZEIT oder HIMMEL 60. Allerdings könnte einen Zwänge, überall Zahlen zu sehen durchaus irre machen – so Warnungen aus meinem Umfeld. Inzwischen ist dieses Training verblasst, ohne dass es mir geschadet hätte.

Kulturgeschichtlich bestätigt wird das, weil schon lange bevor es Schriften gab, gezählt und gemessen wurde. In der Architektur sind Zahlenbezüge omnipräsent. Kompositionen haben oft berechenbare Grundlagen. In binären Codes der digitalisierten Welt wird alles auf die Signale 0 und 1 reduziert um übertragbar zu sein. Die Physik basiert auf Teilchen, Wellen und Zufallskonstellationen.

Jedenfalls: Nach dieser Methode hat das Wort KABBALA den Buchstabenwert 30 – wie BIBEL 30 und ERBE 30, was wie eine göttliche Bestätigung solcher Zusammenhänge wirkt.

Für den bedeutenden Religionshistoriker Gershom Scholem heißt KABBALA wörtlich TRADITION. TRADITION wiederum ist gleichwertig mit HANDSCHRIFT (Code 110), der ursprünglichen Form der alten Texte und jeder Schriftlichkeit. Die THORA hat denselben Zahlencode wie GOTT und MENSCH (62), der TALMUD wie der TEMPEL( 71). Da einst ohne Wortabstände geschrieben, war jeder Buchstabe besonders wichtig, um Muster, Symmetrien und weitere Bedeutungen zu entdecken – was vor allem in der KABBALA zur mystischen Überlieferung des Judentums wurde. Selbst im Deutschen scheinen merkwürdig plausiblen Sinnbezüge zu belegen, dass mit Methoden der Kabbala – der „WISSENSCHAFT VON DER KOMBINATION DER BUCHSTABEN“, so eine ihrer Definitionen – uferlose Erkenntnisse und Denkanstöße gewonnen werden können.

In seinem Buch Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen beschreibt Gershom Scholem die jeden Buchstaben wichtig nehmende Kabbala als Teil jener mystisch-religiösen Bewegung, die sich, ohne ein bestimmtes Lehrsystem zu sein, seit talmudischer Zeit entwickelt hat, mit Höhepunkten im Orient, in Spanien, in der Provence, im Italien des Mittelalters, in Safed in Palästina zu Beginn der Neuzeit, später im Chassidismus in Deutschland, in Osteuropa, mit starkem Einfluss auf die Lebensweise gläubiger Juden. Der universelle Anspruch zeige sich sogar darin, so Gershom Sholem, „dass das hebräische Wort für die ,70 SPRACHEN‘ (was im Hebräischen den Inbegriff aller Sprachen bedeutet) denselben Zahlenwert hat wie das hebräische Wort für ,KOMBINATION DER BUCHSTABEN‘.“ Denn je reiner und vollkommener das mystische Wissen der Kabbalisten sei, desto näher komme es mit präzisen Schriftanalysen „dem ursprünglichen Wissen der Menschheit überhaupt“, heißt es in Texten dazu. Daher behandle die Kabbala „die Thora als Alphabet, als Sprache selbst“.

Für Kabbalisten ist „DAS WESEN DER WELT SPRACHLICHER NATUR“, was in der Moderne etwa von Wittgenstein oder Derrida aufgegriffen wurde. Vieles lasse sich erst allmählich entschlüsseln, gerade wenn rechnerische Beziehungen einzelner Wörter vorerst keinen Sinn ergeben. In der GENESIS, dem Stoff der Kabbala, sei für jene, die sich auf sie berufen, absolut NICHTS ZUFÄLLIG. So wie vom KORAN geglaubt wird, dass er schon vor der Sprache, vor der Schöpfung existiert hat. Selbst manche lutherische Theologen sehen die Heilige Schrift als eine „Inkarnation des Heiligen Geistes“. Gerade für protestantische Fundamentalisten in den USA ist das unumstößlich, als weiterhin wörtlich genommene Erklärung der Welt, ohne dass die Evolution akzeptiert wird. Auch „die Kabbalisten glauben so wie heute noch viele Christen an die Göttlichkeit dieser Geschichte, an ihre wohlüberlegte Abfassung durch eine unendliche Geisteskraft“, so Standardkommentare. Deshalb komme es auf jeden Buchstaben, jede Nuance, auf Querverweise und Textstrukturen an. Strikte religiöse Glaubenssysteme gehen eben wie die Kabbalisten davon aus, dass in den alten Texten letztlich alles GÖTTLICH bestimmt sei, nichts daran ZUFÄLLIG sein könne.

Sonderbarerweise sind aber im Deutschen GÖTTLICH und ZUFÄLLIG nach dem Alphabetsystem gleichwertig. Beides hat den geheimnisvollen Buchstabenwert 99 – so wie BEDEUTUNG, ABHÄNGIGKIEIT oder IRRTUM (ebenfalls Code 99). Bereits darüber ließe sich uferlos debattieren. Jedenfalls eröffnen sich damit jene Sphären, wo „ Das Alphabet als Code“ (Code 148) in meinem Sinn schlicht zu freigeistiger ASSOZIATION (ebenso Code 148) anregt, ohne über sinnstiftende höhere Mächte spekulieren zu müssen.

Denn sogar das Wort BUCHSTABE selbst verweist durch seinen Code 81 auf VERDACHT – so als ob zum Misstrauen gegen jede IDEOLOGIE (Code 81) aufgefordert würde. Es verbindet sich aber auch mit KREUZ und RITUAL oder mit ORIENT (alle Code 81), als Hinweis auf die Herkunft unserer Schrift und monotheistischer Religionen.

Bezeichnend bleibt, dass nach dieser Methode Wörter über ihre Zahlenwerte auf vorher UNABSEHBARE WEISE verbunden werden. Das ermöglicht eine ganz andere Suche – eben nach numerisch verwandten Wörtern und Wortreihen. Es verändert den Blick auf sie und ihre Nachbarschaften und erlaubt permanent Entdeckungen.

Da alle Buchstaben eines Wortes einen Eigenwert haben und – gleichsam demokratisch – jeder berücksichtigt wird, befreit das von der elitären Fixierung auf Anfangsbuchstaben, wie sie in Lexika und Wörterbüchern üblich ist. Numerisch gleichwertige Wörter erinnern an eine für jede Gesellschaft wichtige GLEICHHEIT (Code 86 wie UTOPIE). Bedeutungen befreien sich von einengender Grammatik. Bemerkenswert ist, wie oft solche Zusammentreffen sinnvoll erscheinen, obwohl es um reine Zufälle geht. Aber etwas gefunden wird nur, wenn danach gesucht wird.

Zumindest dem Anschein nach lassen sich dem Alphabet Geheimnisse entlocken für die es keinen erkennbaren Autor gibt. Die immer wieder berechneten Listen dazu habe ich lange für zu esoterisch und ziemlich absurd gehalten. Erst nach genügend Impulsen für aufklärende Kommentare und vielen Fundstellen in der Literatur machte ich ein Buch daraus. Es war eine Zäsur um mich wieder anderen Themen widmen zu können. Aufgezeigt wird jedenfalls, wie leicht manches nach dieser Methode beweisbar erscheint und damit Gewicht erhält, so als ob sich eine höhere Macht offenbaren würde. Dabei geht es um bloße Berechnung, keineswegs um geheimnisvolle Sinnstiftung. Deutlich wird: Worin ein Sinn erkannt wird, ist Sache des Beobachters, der Beobachterin. Denn auch ohne Religionsbezug eröffnen sich weite Felder jenseits üblicher Bedeutungssuche.

So verweist WELT gleichwertig auf HIMMEL, ZEIT, GEIST – wie auf ASKESE, OPFER, LÄCHELN (alle mit Code 60). KOSMOS verbindet sich mit WAHRHEIT (Code 92), UNIVERSUM mit ZUSAMMENHANG, RELATIVITÄT und ÜBERRASCHUNG aber auch mit KUNSTWERK (alle Code 142). KUNST wiederum verweist auf AUGENBLICK, WUNDER und URTEIL (Code 85). ERKENNTNIS hat plausible Wortbeziehungen mit EXPERIMENT und BEHARRLICHKEIT (Code 129), AUFKLÄRUNG verweist numerisch auf GESELLSCHAFT, WIDERSTAND, MÖGLICHKEIT – jedoch auch auf REALISMUS (alle Code 117). Das Wort SINN verbindet sich durchaus plausibel mit SUCHE, REISE, ALTER – jedoch auch mit GEDICHT (Code 56), während UNSINN mit REALITÄT gleichwertig ist (Code 91). Vorgegeben ist im Alphabet bereits, dass solche ASSOZIATIONEN durchaus zum LERNPROZESS bei der WAHRHEITSSUCHE beitragen können (Code 167). Ein TEXT (Code 69) könnte mit solchen Anregungen durchaus zu literarischer PROSA und sogar zu POESIE werden (ebenfalls Code 69).

Entdecken lässt sich dazu ständig Neues, so bei EDGAR ALLAN POE, den Geheimschriften und Kryptographie sehr interessiert haben. Lyrik als strikt methodische, analytische Arbeit sehend, plädierte er in seinem berühmten Aufsatz THE PHILOSOPHY OF COMPOSITION entschieden gegen Spontanität und für THE ELIMINATION OF OCCASIONAL ACCIDENTS. Wie in einer mathematischen Gleichung ergibt sich für beide Wortfolgen jeweils die Buchstabensumme 345. Mysteriöserweise wiederholt sich das im Deutschen: DIE METHODE DER KOMPOSITION entspricht numerisch seiner Forderung AUSSCHALTUNG DES ZUFALLS (Code 271). Analog dazu lassen sich aus meinen Tabellen mit Tausenden Wörter auf Deutsch und Englisch ganze Textpassagen konstruieren. So ergibt sich nach den Buchstabenwerten für aktuelle politische Tendenzen der Merksatz: Das PARADIES der wenigen liegt RECHTS (Code 73). LIBERAL ist, wer GLÜCK hatte (Code 59). LINKS und GRÜN entsprechen einander (Code 65), zumindest wenn es nach dem ALPHABET geht (ebenfalls Code 65). Auch zur Situation hierzulande erschließen sich direkt aus dem Alphabet markante Aussagen: WÖRTLICH, BUCHSTÄBLICH und WIENERISCH sind numerisch gleichwertig (Code 113), auch KÜNSTLERISCH, ERBARMUNGSLOS und ÖSTERREICHISCH (Code 164). Das Wort KOMPOSITION stellt numerisch durchaus sinnvolle Fragen nach PROPORTION, NOTWENDIGKEIT, BEWUSSTSEIN, FORTSCHRITT (Code 156). Den Buchstabensummen nach gilt bereits eine TONFOLGE als BOTSCHAFT (Code 94). Obwohl sich zum Wort MUSIK so dramatische Bezüge wie GEBURT– TRAUM – PARADIES (Code 73) ergeben, verweist MUSICA ANTIQUA, das Ensemble von René Clemencic, numerisch schlicht auf SPURENSUCHE und OBJEKTIVITÄT (Code 149) – als ein naher Bezug zu ASSOZIATION wie zu meinem Buchtitel „ Das Alphabet als Code“ (Code 148). Zwanghaft muss das keineswegs werden, weil die Elemente des Alphabets SPRACHE und ZEICHEN rechnerisch mit IRONIE verbinden (alle Code 70).

Jetzt habe ich Sie genug verwirrt – und vielleicht zum genaueren Wahrnehmen von Buchstaben und Wörtern angeregt. Verständlicher werden solche Wortberechnungen durch aufmerksames LESEN, das dessen Alphabetwert mit ARBEiT gleichsetzt (Code 55). Als KONTRAPUNKT dazu kann die Beschäftigung damit jedoch auch zu bloßer UNTERHALTUNG dienen, und dennoch gelegentlich irritieren (Code 161) – was offenbar besser in unsere medial dominierte Welt passt. Ins uferlose erweitern lässt sich das alles selbständig. Anleitungen braucht es nicht dazu.

Christian Reder