Beethoven hat die Tür zur Moderne aufgestossen

Johannes Penninger im Interview mit Librettistin Kristine Tornquist und Komponist Tscho Theissing

Die Erfinder Johann Nepomuk und Leonhard Mälzel stehen für die Aufbruchsstimmung zu Beginn des 19. Jahrhunderts und der einsetzenden industriellen Revolution. Sie versuchten die Kunst mit der Technik zu vereinen und schufen für Ludwig van Beethoven zunächst das Metronom und später den Musikautomaten Panharmonikon.

Kristine Tornquist geht in ihrem Libretto von diesen historischen Umständen aus und führt die Geschichte weiter. Beethoven ist von den Erfindungen der Brüder Mälzel weniger angetan wie von ihrer Assistentin Elise. Diese, als Figur angelehnt an die mysteriöse Widmungsträgerin des berühmten Klavierstücks, erwidert die Liebe zu Beethoven. Elise möchte die Kontrahenten versöhnen und konstruiert die Komponiermaschine Genia.

Im Gespräch geben Kristine Tornquist und Tscho Theissing Einblicke in die Entstehung ihrer Oper, die anlässlich des Beethoven-Jahres in der Kammeroper uraufgeführt wird.

Der Mensch scheint in den Biographien berühmter Künstler oft hinter der zur Skulptur erstarrten Ikone zu verschwinden. Wie habt Ihr Euch Beethoven genähert und Euer Thema gefunden?

Kristine Tornquist: Ich hab mich einen Monat in die Literatur versenkt und dabei festgestellt, wie weit die Welt des beginnenden 19. Jahrhunderts von uns entfernt ist. Musik war damals die progressivste Kunstform, heiss diskutiert. Und Beethoven war Avantgarde, er hat die Tür zur Moderne aufgestoßen. Er sah die Musik nicht mehr als dienende Unterhaltung, sondern als eine individuelle Ausdrucksform. Er wollte sich bewusst aus allen Abhängigkeiten lösen, und kannte nur sein künstlerisches Ich als Referenz. Damit war er so etwas wie der Erfinder des Künstlergenies – und ein Vorreiter der Individualisierung, die bis heute anhält. Wir sind ja alle so frei, wie Beethoven gern gewesen wäre. Aber wir kennen inzwischen auch die Nachteile der Freiheit. Ich denke, dass wir gegenwärtig wieder an einer Schwelle zur Veränderung stehen – die Moderne ist vorbei, nicht nur in der Kunst, das Menschenbild ändert sich, der Einzelgänger vernetzt sich. Ich sehe das Beethoven-Jubiläum als Rahmen für den Anfang und das Ende einer künstlerischen Phase.

Wer waren die vergleichsweise unbekannten Brüder Mälzel?

Kristine Tornquist: Johann Nepomuk und Leonhard Mälzel haben das von ihnen erfundene Metronom Beethoven mit Widmung angeboten. Johann Nepomuk war aber nicht nur ein Erfinder, er war auch ein ausgezeichneter Geschäftsmann. In der Schaustellerei – heute würde man sagen Produktionsfirma – sah er einen profitablen Geschäftszweig. Als ihm das höfische Wien zu eng wurde, ging er zuerst nach London und emigrierte dann nach Amerika. Mit seinem technischen Zirkus wurde er in den Vereinigten Staaten zur Berühmtheit. Beide Mälzel-Brüder waren aber auch ausgebildete Pianisten, haben sich sehr für Musik interessiert und viele Musikautomaten gebaut.

Wie verlief die weitere Zusammenarbeit, der Weg vom Libretto zur Partitur?

Kristine Tornquist: Tscho und ich waren uns ab unse rem ersten Treffen sofort einig, dass wir eine groteske Geschichte erzählen wollen. Bei Beethoven denken immer alle an Ernst, Pathos und Tragödie und genau das wollten wir vermeiden.

Tscho Theissing: Das Groteske, Unpathetische kommt meinem persönlichen Geschmack auch sehr entgegen. Genia ist meine erste eigene Oper. Ich habe früher viel für den Gebrauch in meinen eigenen Ensembles komponiert, war aber in den vergangenen Jahren vorrangig als Bearbeiter tätig, so auch für Bizets Carmen und Donizettis Don Pasquale in der Kammeroper. Dabei ist mir klar geworden, dass mir der Ansatz, mich auf Fremdmaterial als Kristallisationspunkt zu beziehen, sehr entgegenkommt. Texte oder Musik, die mich ansprechen, sind ein gutes Sprungbrett, um mich in meine eigene Kreativität zu stürzen. Bei Genia kann ich nun Eigenkomposition und Bearbeitung ideal verbinden.

Was war Ihr kompositorischer Zugang und wie ist Beethovens Musik in die Partitur eingeflossen?

Tscho Theissing: Vor Jahrzehnten habe ich rasend viel Beethoven gehört. Nun, nach vielen Jahren „Beethoven-Karenz“ ist mir beim Wiederhören besonders aufgefallen, wie viele himmlisch-schöne Stellen dieser Mensch auch komponiert hat; er wird ja häufig auf den titanischen Revolutionär reduziert. Für mich war immer klar, dass Beethovens Musik in meiner Oper eine wichtige Rolle spielen soll, nun ist sie auf verschiedene Weise präsent: als originale Zitate, dann als einzelne Motive, die ich mit meinen eigenen Techniken weiterverarbeite, und schließlich auch als Ausgangspunkt freier Assoziationen. Daneben gibt es aber natürlich auch viel Eigenes von mir. Da musste ich mich erst zu der Skrupellosigkeit durchringen, das einfach so neben Beethovens Genieblitze zu stellen.

Das Libretto geht von historischen Figuren aus, die dann ein fiktives Eigenleben entwickeln. Was war der dramaturgische Ansatz?

Kristine Tornquist: Den Trick, historische Figuren in eine fiktive Geschichte zu verwickeln, habe ich von Leo Perutz abgeschaut. Die Figuren sind alle bis auf eine historisch, und ich habe sehr viele Zitate verwendet als auch versucht mir zu überlegen, wie Beethoven, sein Sekretär Anton Schindler, die Verehrerin Elise oder die Gebrüder Mälzel wirklich reagieren hätten können.

Wer ist die titelgebende Genia?

Kristine Tornquist: Genia ist die komponierende Maschine, mit der die Techniker Beethoven erstmals beeindrucken. Sie spricht wie Alexa oder Siri und sie kann nicht nur etwas Fertiges abspielen wie ein Musikautomat, sondern auch selbst etwas Neues erfinden. Elise, die Assistentin der Mälzels, die junge Elise, bewundert Beethoven sehr und überlegt, wie es wohl in seinem Kopf ausschaut. Maschinen können zwar alles schneller und genauer als die Menschen, aber neue Ideen können sie nicht fassen, weil sie nicht von ihrem geraden Weg abweichen können. Viele große Erfindungen sind durch einen Irrtum entstanden. Der Fehler und daraus zu lernen, ist unsere spezifisch menschliche Fähigkeit. Die Maschine Genia ist also dem menschlichen Genius Beethoven nachempfunden.

Tscho Theissing: Bei Genia handelt es sich auch um keinen reinen Roboter, sondern tatsächlich um Künstliche Intelligenz, die Kreativität simulieren kann.

Wie haben Sie Text in Musik für Personen und eine Maschine transportiert?

Tscho Theissing: Kristine hat viel Erfahrung mit Libretti und ich habe mich in ihrem Text sofort zurechtgefunden. Es gab da eine Art blindes Einverständnis. Was die Auswahl der Stimmcharaktere betrifft, habe ich die Figur des Beethoven von Anfang an als Bariton gesehen. Damit stand auch fest, dass Kristján Jóhannesson die Rolle übernehmen wird. Und als ich Ilona Revolskaya zum ersten Mal singen gehört habe, war mir klar, dass ich für sie eine Bravour-Arie schreiben möchte, da war die Automatenrolle der Genia naheliegend; Koloratur-Arien haben ja oft etwas manieriert-künstliches. Bei uns besteht der Text ihrer Arie als kleine Brücke in die Jetztzeit aus verschiedenen Computer-Programmiersprachen, der letzte Teil sogar nur mehr aus den Wörtern „Null“ und „Eins“.

Nach dem Metronom hat Johann Nepomuk Mälzel auch das Panharmonikon erfunden. Wie können wir uns diesen Musikautomaten vorstellen und wie seht Ihr die Wechselwirkung zwischen Technik und Kunst?

Kristine Tornquist: Das Panharmonikon ist heute weniger bekannt, weil es nicht erhalten geblieben ist. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts haben aber nicht nur die Mälzels Musikmaschinen entwickelt. Johann Nepomuk Mälzels Panharmonikon verfügte über bis zu 259 Instrumente, die alle mechanisch angetrieben waren. Die Kompositionen wurden mit großen Lochscheiben eingespeist und Riemenwerke haben dann den Mechanismus betrieben.

Tscho Theissing: Konträr zu den Interessen der Mälzels ist unser Orchester ganz traditionell besetzt: Streichquintett, vier Holzbläser, drei Blechbläser, eine Harfe, zwei Schlagwerker und für rezitativische Teile manchmal ein Orchesterklavier, fast wie im 19. Jahrhundert. Den Einsatz von elektronischen Instrumenten habe ich bewusst vermieden, auch Geräusche wie Beethovens Tinnitus lasse ich instrumental erzeugen. Wir wollten die Oper absichtlich handgemacht klingen lassen.

Kristine Tornquist: Hier einfach eine Einspielung zu machen, wäre der Moral der Geschichte zuwider gelaufen. Wir sprechen mit unserem Stück ja für die Qualität der Kunst als Kommunikation zwischen Menschen. Da müssen dann im Orchester die Maschinen diesmal draussenbleiben! In unserer technologisierten Welt kann es schon mal passieren, dass man glaubt, mit einem Menschen zu sprechen, während die Kommunikation längst automatisiert ist. Wer wach genug ist zu begreifen, dass dahinter aber eine Blackbox steht, die menschliches Verhalten nur simuliert, wird verstehen, dass das menschliche Gespräch nicht zu ersetzen ist. Menschen wollen Menschen sehen, fühlen, hören. Wir gehen in Konzerte oder ins Theater, weil dort echte Musiker sitzen und ihre Instrumente spielen.

Tscho Theissing: Ich denke, dass dieses Thema auch die Oper selbst stark betrifft. Wir können uns doch fast alles in nahezu perfekten Aufnahmen zu Hause anhören. Dennoch strömen Abend für Abend zumindest hier in Wien noch Zuschauer in die Opernhäuser. Warum gehen wir denn in ein Theater? Um Menschen auf einer Bühne zu sehen, auch wenn sie vielleicht Fehler machen. Wir suchen noch immer die direkte menschliche Begegnung.

Stagione 03/2020