Chodorkowski – Putin, ein Königsdrama?

Chodorkowski hat sich angeboten, als Interimspräsident nach Putins Sturz zu agieren. Realistischerweise ist aber davon auszugehen, dass Putin noch Jahre fest im Sattel sitzen und Chodorkowski einen langen Atem benötigen wird. Es sind zur Zeit keine größeren Unruhen zu erwarten, da im öffentlichen Bewusstsein an der ökonomischen Abwärtsspirale externe Probleme wie der niedrige Ölpreis und die Sanktionen schuld sind, da Putin das gedemütigte und zurückgewiesene Volk von den Knien wieder auf die Beine stellte, weil zu viele Menschen schlecht dagegen protestieren können, dass sie fürs Nichtstun Geld verdienen und da die Korruption doch auch das Alltagsleben ermöglicht.

Putin wird im Westen gerne für einen Politiker gehalten, der eine national-patriotische, russisch-orthodoxe Machtideologie vertritt. Tatsächlich aber ist Putin ein genialer Rechtspopulist, und um historische Vergleiche zu bemühen - eine Mischung aus Alexander Nevskij und Mussolini.

Alexander Nevskij hatte seinen Ruhm als Fürst von Nowgorod erlangt, durch seinen Sieg über die Schweden 1240 an der Newa, den Sieg über die Deutschen Ordensritter 1242 am Peipussee und die erfolgreiche Abwehr des litauischen Fürsten Mindaugas, der die russische Schwäche nach dem Mongolensturm zur Machtausweitung im Osten nutzen wollte. Der Erfolg im Westen gegen die lateinischen Christen ging Hand in Hand mit der Beugung unter die mongolisch-tatarischen Herren im Osten, die jedoch im Gegensatz zu den dominanten westeuropäischen Imperien eine freie Religionsausübung erlaubten.

Putin behauptet, in der Ukraine die Gefahr des Faschismus zu bekämpfen, tatsächlich aber hat das russische System viel mehr Ähnlichkeiten mit dem italienischen Faschismus als jenes in der Ukraine: die Betonung erlittener Erniedrigung mündet in einen kompensatorischen Einheitskult, der jeden Kritiker zum Verräter stempelt; Rechtfertigung von Gewalt „im Namen des Volkes“; eine korporative Organisation der Wirtschaft unter staatlicher Dominanz; Mythologisierung und Heroisierung der Vergangenheit mit dem Traum imperialer Größe; Männlichkeitswahn und paranoide Ablehnung von Dekadenz und moralischem Verfall.

Nicht zufällig ist das in Russland populäre Schimpfwort für Europa „Gayropa“ und wird andererseits Putin von seinen Kritikern „Putler“ genannt.
Chodorkowski war in den 80er Jahren einer der begabtesten Komsomolzen aus der sowjetischen Führungskaderschmiede sowie ein feinsinniger, charismatischer Intellektueller in der Tradition der Westler.

In den 30er und 40er Jahren des 19.Jahrhunderts wurde in Russland der Streit über das historische Schicksal Russlands populär. Es formierten sich zwei Lager: die Slawophilen und die Westler. Die wichtigsten Ideologen der Slawophilen, wie die Brüder Aksakow oder Samarin, hielten den europäischen Entwicklungsweg für tödlich für die Russen. Das Ideal der Slawophilen war die vorpetrinische Rus mit den Landräten. Dem Vorwurf der Zurückgebliebenheit gegenüber Europa begegneten sie mit der Idealisierung der russischen Bedachtsamkeit, des einfachen ländlichen Lebens im Gegensatz zum westlichen Fortschrittswahn.

Die Führer der Westler waren der Überzeugung, dass Russland den westlichen Weg nehmen und eine parlamentarische konstitutionelle Monarchie werden müsse. Der linke Flügel der Westler vertrat eine revolutionär-demokratische Position. Ihre Führer waren Belinskij und Alexander Herzen. Herzen lebte ab 1852 in London, wo er u.a. die in Russland sehr populäre Zeitung „Kolokol“ (=Glocke) herausgab. Herzen entwickelte regierungskritische, sozialutopische Ideen in ideologischer Nähe zu Anarchisten wie Bakunin und den Narodniki. Auf ihn geht auch eine der russischen Zentralfragen zurück: Kto winowat?“ (= „Wer ist schuld?“, Roman 1847). Die zweite, bis jetzt aktuelle Zentralfrage Russlands Tschto delat?“ (= „Was tun?“) geht auf den gleichnamigen Roman von 1863 des Westlers, revolutionären Demokraten, Schriftstellers und Kritikers Tschernyschewskij zurück. Er trat für die revolutionäre Beseitigung der Alleinherrschaft ein und vertrat die Interessen der Arbeiterklasse. Er war überzeugt von der Idee, den Sozialismus auf der Grundlage der Strukturen der Landbevölkerung Russlands erschaffen zu können.

Die Sympathie der westeuropäischen Intellektuellen und Künstler war immer auf Seiten der russischen Dissidenten und Westler, - sei dies Herzen, Kropotkin oder Bucharin; Politkovskaja, Nemtsov oder Chodorkowski. Interessant dabei ist, dass eben dies immer die Russen und Russinnen waren, die zu ihren Lebzeiten zuhause in Russland entweder bedeutungslos oder geächtet waren.

Die Russen tendieren in der großen Mehrheit zur Romantisierung der eigenen Rückständigkeit, zu den slawophilen Modellen. Der Westen tendiert zur Romantisierung der Minderheit der intellektuellen Westler, die nur in seltenen historischen Momenten eine Chance auf Machtübernahme hatten und bei Emigration sowieso „out of the game“ waren und sind.

In der Zwischenzeit bilden die rechtspopulistischen Politiker in Ost und West Allianzen und dominieren die Realpolitik.

Franz Kumpl