Die stillen Schwestern

In den prähistorischen Höhlenmalereien, die so grossartige Liebeserklärungen an die Brüder Tiere sind, klafft eine auffällige Lücke: die Schwestern Pflanzen fehlen. Obwohl ihr Grün Hinter- und Untergrund unserer Existenz ist, ihr Atem uns die Atmosphäre schafft, ihr Leben Bedingung von unserem ist. Ihre Langsamkeit, ihre Beharrlichkeit, ihr Schweigen und das Fehlen eines Blickes macht sie scheinbar zu reglosen Objekten. Ein Missverständnis, wie Darwin bemerkt:

Es ist kaum eine Übertreibung, wenn man sagt, dass die in dieser Weise ausgerüstete Spitze des Würzelchens, welches das Vermögen hat, die Bewegungen der anderen Teile zu leiten, gleich dem Gehirn der niederen Tiere wirkt; das Gehirn sitzt innerhalb des vorderen Endes des Kopfes, erhält Eindrücke von Sinnesorganen und lenkt die Bewegungen.

Die Familie der Pflanzen ist sehr alt (Landpflanzen seit über zwei Milliarden Jahren) und sehr gross (500.000 Arten), zu ihr gehören die erfolgreichsten Arten der Geschichte des Lebens (Bärlapp, Schachtelhalm, Farn), sie stellen den grössten Anteil der lebenden Biomasse (82%), sie haben die Erde völlig umgestaltet, die Atmosphäre erzeugt und die Bedingungen für die Entstehung der Tiere geschaffen. Statt Anthropozän könnte man eigentlich immer noch von Florazän sprechen und das seit Milliarden Jahren - so sieht die Erde aus dem All betrachtet aus. Diese grüne, sauerstoffreiche Erde ist nicht die Schöpfung eines menschengleichen Gottes, sie ist das Werk unsrer lichttrinkenden, unsterblichen Schwestern.

Auch heute, wo die Aufmerksamkeit für die Verletzlichkeit der Natur steigt, gelten dennoch unterschiedliche Wertmaszstäbe für Tiere und Pflanzen. Wohl auch, weil ihr Leben vom menschlichen so verschieden ist, dass Einfühlung in dieses andere Sein kaum gelingen kann, zumal wenn man bedenkt, dass die im buchstäblichen Sinne wesentlichen Teile der Pflanze unterirdisch verborgen bleiben. Und nicht nur das, auch das Identitätskonzept ist gänzlich unvergleichbar. Während wir uns als abgegrenzte, vergängliche Individuen erleben, ständig zu Flucht, Kampf und Abgrenzung gezwungen, kennen Pflanzen über den einfachen binären Lebensschalter Leben oder Tod hinaus komplexere und erweiterte Formen des Werdens, Existierens, Überdauerns und Fortpflanzens, man könnte sie sogar als Dividuen bezeichen: sie teilen, klonen, ersetzen sich, sie wachsen unaufhörlich weiter, erweitern sich immer wieder von neuem und überdauern so Jahrtausende. Doch das Grossartigste, das die Schöpfung in den Pflanzen verwirklicht hat, ist ihre Fähigkeit zur Autotrophie - sich zu erhalten, ohne anderes Leben vernichten zu müssen, als vollkommene Überwinder der Entropie, ohne die tierische Erbschuld des Fressens, Tötens und ihrem hohen Energieverbrauch.

Botaniker spekulieren schon seit Jahrhunderten über ihr Wesen, aber gerade in den letzten Jahren sind Fragen virulent geworden: Können sie sprechen? Machen sie Pläne? Kämpfen, kommunizieren, fühlen sie? Ja, denken sie vielleicht sogar? Das ist gut gemeint, aber der anthropomorphisierende Blick greift zu kurz. Da sie ganz andere Organisation und Sinne haben, sind ihre Botschaften so fremdartig wie die „kleinen grünen Männchen“ vom Mars. Ihre Rufe sind Duft, ihr Wille Wachstum. Als Meister der potentiellen Unsterblichkeit verteidigen sie sich mit Geduld, sie vergnügen sich mit vielfältiger Vermehrung, sie formulieren in Formen und perfektionieren Existenz als aktive Kunst. Ihre Botschaften sind Grün. Grüne Oden an das Licht.

Mit ihrer Langsamkeit bleiben sie trotz ihrer Bedeutung unter dem Radar der menschlichen Aufmerksamkeit und erreichen höchstens menschliche Ahnungen. Doch auch wenn das menschliche Ohr sie nicht hören kann, lässt es sich doch ahnen, wie Robert Walser, ein passionierter Waldläufer schreibt:

Es ist ein dunkles Begreifen in jedermans Herzen, warum der Wald so berauschend schön ist, und es will niemand mit der lauttönenden exakten Sprache herausrücken. Wälder, durch die man gegangen ist, hinterlassen im Herzen ein namenloses Gefühl der Hoheit und Heiligkeit, und solches Gefühl gebietet zu schweigen.

Das Schweigen der Pflanzen ist ansteckend, aber nicht still, man kann es hören, wenn man horcht!

- PROGRAMM

Kristine Tornquist | Libretto | Ö1 Gedanken | Ö1 Leporello