Das Wunderland

Vor der verschlossenen Tür

Es ist so lange her, seit ich dich gesehen habe, dass ich fast fürchte, Du könntest die Gelegenheit ergriffen haben, um erwachsen zu werden, und dass Du die Nase über meinen Brief rümpfst und rufst, „ein hübsch unverschämtes Gebräu.“
Charles Lutwidge Dodgson in einem Brief an Mary MacDonald 1867

Natürlich gibt es, letzten Endes, nicht viel Gemeinsames zwischen dem Gemüt eines alten Mannes und dem eines Kindes, doch was möglich ist, das ist süss - und heilsam, glaube ich.
Charles Lutwidge Dodgson in einem Brief an Edith Rix 1887

Die Herrschaft im Reich der Kindheit ist vergänglich. Selbst wenn man bleiben will, der man ist, als der man sich im Leben vorgefunden hat, wird man unvermutet verwandelt, wird (zumindest äusserlich) erwachsen und passt nicht mehr durch die vertraute, doch plötzlich zu eng gewordene Tür in den wundervollen Garten der Kindheit.

Charles Lutwidge Dodgson fand sich als ein glücklicher König der Kindheit im Pfarrhaus und Pfarrgarten mit seinen sieben vorwiegend jüngeren Schwestern und zwei Brüdern, zur Phantasie ermutigt von seinem witzigen und liebevollen Vater. Er schrieb Stücke fürs Marionettentheater, erfand komplizierte Spiele für seine Geschwister, verfasste Gedichte und Opernlibretti, bis er als Zwölfjähriger auf eine Privatschule geschickt wurde. Damit endete eine perfekte Kindheit, die er sein ganzes Leben weder verlassen wollte noch wiederfinden konnte. Er blieb zeitlebens buchstäblich zwischen den Spiegeln: den Kindern ein Erwachsener, den Erwachsenen ein kindischer Sonderling, der für die Anforderungen des viktorianischen England an einen erwachsenen Mann denkbar ungeeignet war.

Damit war er nicht allein. Im viktorianischen England, einem Minenfeld von Zwängen und Verboten, eröffnete sich zumindest im bürgerlichen Milieu als einzige Enklave der Freiheit die Kindheit. Die Kindheit als eigenständige Existenzform des Menschen war eine relativ neue Entdeckung, die im 19., dem bürgerlichen Jahrhundert ihren Höhepunkt fand: erstmals entwickelte sich eine Spielzeugindustrie, eigenständige Kinderkleidung und die Kinderliteratur florierte sich als neue blühende Literaturgattung in Nonsense- und Abenteuergeschichten. Peter Pan im Neverland, ein halbes Jahrhundert jünger, aber aus derselben Geisteswelt, prägte als Peter Pan-Syndrom den psychologischen Begriff, mit dem man Charles L. Dodgson wohl heute charakterisieren würde.

Neben seiner bürgerlichen Existenz als verschrobener und auch pingeliger Dozent für Logik und Mathematik sowie Bibliothekar in Oxford erzählte Charles Dodgson sich in seinem Alter Ego - dem nie-erwachsen-werdenden Lewis Carroll - in die Kindheit, die ihn verstossen hatte und die ihm versperrt war, zurück. Der Schlüssel, der ihm diese Türe aufschliessen sollte, waren die vielen kleinen Mädchen, idealerweise zwischen 6 und 12 Jahren (der sogenannten Latenzzeit), die er mit Briefen, Ausflügen und Inszenierungen vor seiner Fotokamera verführte, um sich von ihnen führen zu lassen.

An seinen unzähligen Briefen an kleine Mädchen (nur ein einziger Brief ist an einen Buben) kann man erkennen, dass er mit zunehmenden Jahren müder wird und das Kindische etwas Verzweifeltes bekommt, doch als der 30jährige 1862 der zehnjährigen Alice B. Lidell (1852–1934) und ihren Schwestern, den Töchtern seines Dekans, das händisch geschriebene und selbstillustrierte Buch „Alice' Adventures under Ground“ als Liebesgabe darbrachte, muss er noch voll Hoffnung und Sehnsucht gewesen sein, sich durch die kindliche Geliebte die verschlossene Tür in die Kindheit zu öffnen.

Im wahrsten Sinne des Wortes ist Alice in Wonderland eine Verschmelzung von Alice Liddell und Charles L. Dodgson - Alice ist zwar eine seiner Musen und auch Namensschwester der Heldin, in Wahrheit jedoch erzählt das Buch von Charles eigenen Bemühungen und Misserfolgen am Parkett der Gesellschaft: er ist es, der nicht durch die Tür passt, der den Garten nicht findet, er selbst ist es, der zwischen den (erwachsenen) Gegenspielern missverstanden wird, der die befremdlichen Regeln nicht versteht, dem das Wort im Munde umgedreht wird, der fremd bleibt. Viele Anspielungen sind darin zu finden, offen und verschlüsselt, auf die historische Alice (Lidells geburtstag) und auf die innere Heimatlosigkeit des Autors.

"Der Kampf geht um Schicklichkeit", schreibt Christian Enzensberger "Die Waffe ist das Wort." Die blaue Raupe, die Königin, der Hutmacher, der Greif, die gegen Alice im Wortwechsel recht behalten und die Macht über die Sprache gewinnen - sie haben nicht recht, aber die Macht und damit das Sagen. Sie wenden die Sprache gegen Alice und unterwerfen sie ihren unverständlichen Benimmregeln - unter denen Dodgson am College in Oxford (mit zB drei verschiedenen Talaren und dem Verbot der Linkshändigkeit) selbst ebenso zugleich litt wie sich auch unterordnete.

Die Beziehung zu Alices und ihren Schwestern fand 1863 ein abruptes Ende, über das man nie Klarheit gewinnen wird, denn Alices Mutter verbrannte alle Briefe und Dodgsons Neffe vernichtete Tagebuchseiten, die möglicherweise über die Gründe Auskunft geben hätten können. Vermutet wird oft, dass er die 11jährige heiraten wollte, wenigstens mit ihr darüber sprach - möglich ist aber auch, dass es um die ältere Schwester Lorina ging, denn ob Alice für Lewis Caroll mehr Bedeutung hatte als ihre Schwestern, lässt sich nicht nachweisen. Alice, im hohen Alter noch als Muse gefeiert, klärte die Öffentlichkeit jedenfalls nie darüber auf.

Die erste überarbeitete Veröffentlichung 1865 wurde von John Tenniel kongenial illustriert. Alice, wie wir sie uns heute vorstellen, ähnelt nicht der historischen Alice Lidell, aber sie könnte einem Foto aus Charles Dodgsons Fotostudio nachempfunden sein, das Mary Hilton Badcock zeigt. Tenniel zitiert unter anderem The Ugy Dutchess (1513 Quentin Matsys) als Herzogin oder porträtierte den exzentrischen Möbelhändler Theophilus Carter (der ein Bett erfand, das den Schläfer mit kaltem Wasser weckte) als Vorlage für den Hutmacher mit seiner Uhrenmanie.

Über Neverland in Peter Pan schreibt Michael Günter (Scham und Sexualität in der Adoleszenz): Das Voranschreiten der Zeit wird verleugnet, ebenso wenig gibt es Sexualität. Vordergründig führt dies zu einem paradiesischen Zustand völliger Freiheit… Die verleugneten Triebwünsche und verlorenen Objekte kehren jedoch in bizarrer Form zurück.

Zum Teil ist die phantastische Energie, mit der Dodgson sein Wunderland entwirft, seiner persönlichen Situation geschuldet, doch darüber hinaus ist es das Werk eines begnadeten Spielers mit Sprache und Logik - aus der er tiefsten Widersinn und höchstes Vergnügen zwingt und Generationen von Kindern Mut machte, sich gegen die lächerliche Macht mit eigenen Worten zu wehren.

Alice war eines von 10 Kindern des Dekans von Oxford, des Vorgesetzten von Lewis Carroll. Sie und zwei ihrer Schwestern baten Carroll auf einer Bootsfahrt auf der Themse um eine Geschichte, er improvisierte die Reise durch das Wunderland spontan, inspiriert von der sommerlichen Natur rundum, bezog sich aber auch auf gemeinsame Besuche im naturgeschichtlichen Kabinett, bei denen den drei Schwestern die ausgestopften Tiere besonders gefallen hatten. Auf die eindringliche Bitte von Alice, seinem Liebling, schrieb er die Reise durchs Wunderland, illustriert mit vielen eigenen Zeichnungen, zwei Jahre später nieder. Über vier Jahre fotografierte er die kleine Alice im eigens eingerichteten Studio immer wieder in unterschiedlichen Verkleidungen und Posen.

Carroll übergab Alice Liddell (und ihren Schwestern) das Manuskript im November 1864 als persönliches Geschenk. Aber bereits ein Jahr später wurde es veröffentlicht. Für heutige Leser ist das Buch untrennbar verbunden mit den Illustrationen von Tenniel, der sich in den Motiven nicht immer an die originalen Zeichnungen von Carroll hielt, dessen Witz aber sicher einen Teil des Erfolges ausmachten. Das Buch war augenblicklich ein Erfolg. Das Original liegt heute - nach einem Ausflug in die USA - in der britischen Library und wird wie eine Reliquie verehrt - aus ganz unterschiedlichen Motiven.

Kristine Tornquist