Wiener Zeitung, 01.11.2022, Christoph Irrgeher

"Kabbala": Durch Sonne und Mond

Planetarium: Das Oratorium "Kabbala" mit astronomischer Begleitung.

Zugegeben: Am Ende dieses Abends hat sich weder eine Erleuchtung eingestellt noch - das wäre vielleicht so etwas wie ein Minimalziel gewesen - eine vage Ahnung, warum Musikgöttinnen wie Madonna so einen Narren an der jüdischen Mystik gefressen haben. René Clemencics Oratorium "Kabbala", seit Montag beim Festival Wien Modern zu erleben, beschert dem Publikum 80 Minuten lang unverständliche Gesangstexte, teils in Form von hebräischen Worten, teils sind es "Lautmeditationen".

Kurz: Die Kabbala bleibt in dieser Produktion vom sirene Operntheater eine Geheimlehre. Sie wird einem aber immerhin mit einigen Reizen versüßt. Zum einen arbeitet die Klangsprache von Clemencic (1928-2022) mit repetitiven, fasslichen Rhythmen und einer leicht verbeulten Diatonik, die zumindest anfangs einen herben Charme besitzt. Zweitens findet der Abend im Wiener Planetarium statt und bietet dort eine Sternenshow auf, wie man sie auf der großen Kuppeldecke vielleicht schon in Schülertagen erlebt hat.

Erfreulich auch: Dieser Film (Fulldome Video) bleibt weitgehend frei von esoterischen Beigaben. Im Rahmen einer Art "Best of Weltall" werden bunte Nebel-Schönheiten wie "Die Säulen der Schöpfung" vorgestellt, glitzern Sternenhaufen wie die Plejaden und dürfen natürlich auch Darstellungen eines Schwarzen Lochs nicht fehlen, ähnlich gleißend von Lichtströmen umflossen wie in Christopher Nolans Science-Fiction-Film "Interstellar".

Kleine Textinserts, dezent am unteren Kuppelrand eingeblendet, benennen die kosmischen Attraktionen und tragen bisweilen auch zur Erleichterung im Saal bei: Den Satz, dass die Sonne noch Brennstoff für weitere sechs Milliarden Jahre besitzt, liest man in Zeiten schlechter Nachrichten mit gesteigertem Wohlbehagen.

Warum dieser Film ausgerechnet Clemencic’ Oratorium behübscht, erschließt sich freilich nicht so ganz. Weil der Kosmos "Gottes Schöpfung" ist und der Allumwalter in den Kabbala-Texten wiederholt angerufen wird? Mag sein. Jedenfalls geben sich Dirigent François-Pierre Descamps sowie fünf Sänger (darunter zwei Countertenöre), vier Blechbläser und zwei Perkussionisten reichlich Mühe, sich durch gefühlte 1000 Wiederholungen schroffer Motive und archaischer Rhythmen zu arbeiten - Musik, die an die reduzierte Klangwelt des späten Carl Orff erinnert und mit ihrer robusten Motorik wie ein Perpetuum mobile aus Stein wirkt. Am Ende dämmert das Saallicht sanft, der Applaus tönt auch eher zart. Wer die Geheimnisse des Textbuches durchdringen will, hat dafür noch sechs Aufführungstermine Zeit.

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