Détruire la misère

Das Elend aus der Welt schaffen!

Rede von Victor Hugo vor der Französischen Nationalversammlung am 09. Juli 1849

Ich gehöre nicht zu jenen, meine Herren, die glauben das Leid aus der Welt schaffen zu können. Leiden ist Teil des göttlichen Gesetzes. Aber ich gehöre zu denen, die davon überzeugt sind und darauf bestehen, daß man das Elend aus der Welt schaffen kann. (Verschiedene Publikumsbewegungen.)

Wohlgemerkt, meine Herren, ich sage nicht verringern, mindern, begrenzen, eingrenzen, ich sage aus der Welt schaffen. (Erneutes Murmeln auf der rechten Seite.) Das Elend ist eine Krankheit des sozialen Körpers wie die Lepra eine Krankheit des menschlichen Körpers war; das Elend kann verschwinden, wie die Lepra verschwunden ist. (Ja! Ja! Auf der linken Seite.) Das Elend aus der Welt schaffen! Ja, es ist möglich! (Bewegung – einige Stimmen: Wie? Wie?) Die Gesetzgebenden und die Regierenden müssen ohne Unterlaß daran denken; denn solange in diesem Bereich nicht das Möglichste getan wurde, wurde die Aufgabe nicht erfüllt. (Sehr gut! Sehr gut!)

Das Elend, meine Herren, und hier komme ich zum Kern der Frage, wollen Sie wissen, wie es um das Elend steht? Wollen Sie wissen, welche Ausmaße es erreicht hat, ich spreche nicht von Irland, ich spreche nicht vom Mittelalter, ich spreche von Frankreich, ich spreche von Paris, und von der Zeit in der wir leben! Wollen Sie Tatsachen?

Es gibt in Paris… (Der Redner pausiert.)

Mein Gott, ich zögere nicht sie beim Namen zu nennen, diese Tatsachen. Sie sind traurig, aber es ist notwendig sie aufzuzeigen. Und sehen Sie, wenn ich meine Gedanken vollständig aussprechen soll, dann möchte ich, und nötigenfalls würde ich dazu einen formellen Antrag stellen, daß aus dieser Versammlung eine große und ernsthafte Untersuchung der wahren Situation der arbeitenden und leidenden Klassen in Frankreich hervorgeht. (Sehr gut!) Ich möchte, daß alle Tatsachen ans Licht kommen. Wie will man das Übel heilen, wenn man zuvor nicht die wunden Stellen untersucht hat? (Sehr gut! Sehr gut!)

Hier also Tatsachen.

Es gibt in Paris, in diesen Vorstädten von Paris, die der Wind des Aufruhrs jüngst so mühelos emporgetrieben hat, es gibt dort Straßen, Häuser, Kloaken, wo Familien, ganze Familien durcheinander leben, Männer, Frauen, junge Mädchen, Kinder, die nichts zum Bett haben, nichts zur Decke haben, ich würde sogar sagen nichts zur Kleidung haben als einen ekelerregenden Haufen gärender Lumpen in der Gosse gefunden, wo menschliche Kreaturen sich lebendig eingraben, um der winterlichen Kälte zu entfliehen. (Publikumsbewegung.)

Das war ein Beispiel. Möchten Sie andere? In diesen Tagen ist ein Mann, mein Gott, ein unglücklicher Literat, denn weder freien noch handwerklichen Berufen bleibt das Elend erspart, ein unglücklicher Mann ist verhungert, buchstäblich am Hunger gestorben, und man hat nach seinem Tode festgestellt, daß er seit sechs Tagen nichts gegessen hatte. (Lange Unterbrechung.) Möchten Sie, etwas noch Schmerzhafteres hören? Im vergangenen Monat, während des Wiederausbruches der Cholera, hat man eine Mutter mit ihren vier Kindern gefunden, die ihre Nahrung in den widerlichen, übelriechenden Überresten der Massengräber von Montfaucon gesucht haben! (Aufregung.)

Und ja, meine Herren, ich sage, daß es hier Dinge gibt, die nicht sein dürfen ; ich sage, daß die Gesellschaft ihre ganze Kraft aufbringen muß, ihre ganze Fürsorglichkeit, ihre ganzen geistigen Fähigkeiten, ihre ganze Willenskraft, damit solche Dinge nicht mehr sind! Ich sage, daß solche Tatsachen in einem zivilisierten Land das Gewissen der gesamten Gesellschaft verpflichten; daß ich, der hier spricht, mich als Komplize und solidarisch fühle, (Bewegung.) und daß solche Tatsachen nicht nur Unrecht gegen Menschen sind, sondern Verbrechen Gott gegenüber (Fortgesetzte Aufregung.)

Deshalb bin ich überzeugt, deshalb möchte ich alle die mir zuhören überzeugen, daß der Vorschlag, der Ihnen unterbreitet wurde, höchst wichtig ist. Dies ist nur ein erster Schritt, aber er ist entscheidend. Ich möchte, dass diese Versammlung, Mehrheit oder Minderheit, ganz gleich, ich kenne zu dem Thema gar keine Mehrheit oder Minderheit, ich möchte, dass diese Versammlung mit einer gemeinsamen Seele zu diesem wunderbaren, grandiosen Ziel marschiert: das Elend aus der Welt zu schaffen! (Bravo! Applaus.)

Und, meine Herren, ich wende mich nicht nur an Ihre Großzügigkeit, ich wende mich an das, was noch schwerer wiegt im politischen Empfinden einer gesetzgebenden Versammlung. Und, zu diesem Thema, ein letztes Wort: hier ende ich.

Meine Herren, wie ich Ihnen vorhin sagte, Sie haben gerade, unter Mitwirkung der Nationalgarde, der Armee und aller starken Kräfte des Landes, Sie haben gerade den zerrütteten Staat erneut gestärkt. Sie sind vor keiner Gefahr zurückgewichen, Sie haben vor keiner Aufgabe gezaudert. Sie haben die reguläre Gesellschaft gerettet, die rechtmäßige Regierung, die Institutionen, den öffentlichen Frieden, ja sogar die Zivilisation. Sie haben Bemerkenswertes getan ... Und doch! Sie haben nichts getan! (Bewegung.)

Sie haben nichts getan, ich bestehe auf diesem Punkt, solange die gestärkte grundlegende Ordnung nicht die gestärkte moralische Ordnung zur Basis hat. (Sehr gut! Sehr gut! – lebendige und ungeteilte Zustimmung.) Sie haben nichts getan solange das Volk so leidet! (Bravo von links.) Sie haben nichts getan solange es unterhalb von Ihnen einen Teil des Volkes gibt, der verzweifelt! Sie haben nichts getan, solange jene, die im besten Alter sind und arbeiten, ohne Brot sind! Solange jene, die alt sind und nicht mehr arbeiten können, ohne Unterkunft sind! Solange der Wucher unsere Landstriche auffrißt, solange man in unseren Städten vor Hunger stirbt (Fortgesetzte Bewegung.), solange es keine brüderlichen Rechte gibt, keine Gesetze des Evangeliums, die von allen Seiten armen und ehrlichen Familien zu Hilfe kommen, den braven Bauern, den braven Arbeitern, den Menschen mit Herz! (Jubel.) Sie haben nichts getan, solange der Geist der Revolution das öffentliche Leid zur Hilfe hat! (Jubel.) Sie haben nichts getan, nichts getan, solange, in diesem Werk der Zerstörung und Finsternis, das sich im Souterrain fortsetzt, der böse Mensch immer und immer wieder den unglücklichen Menschen zum Mitmenschen hat!

Sie sehen es, meine Herren, ich wiederhole es indem ich zum Ende komme, es ist nicht nur Ihre Großzügigkeit, sondern es ist Ihre Weisheit an die ich mich wende, und ich beschwöre Sie darüber nachzudenken. Meine Herren, denken Sie daran, es ist die Anarchie, die die Abgründe öffnet, aber es ist das Elend, das sie gräbt. (Das stimmt! Das stimmt!) Sie haben Gesetze gegen die Anarchie erlassen, erlassen Sie jetzt Gesetze gegen das Elend! (Fortgesetzte Bewegung auf allen Bänken. – Der Redner steigt von der Tribüne herab und empfängt die Glückwünsche seiner Kollegen.)

Victor Hugo. Übersetzung. Anna Caprioli & Christoph Glatter