George Crumb: Makrokosmos

Ein Essay von Julia H. Schröder

Fantastische, traumähnliche Klanglandschaften beschwören George Crumbs Kompositionen herauf. Es ist eine perspektivische Musik, deren Vordergrund und Hintergrund auf unterschiedlichen Ebenen komponiert und angedeutet werden.

Eine Spielanweisung (zu Night-Spell I in Makrokosmos I) lautet serene, hauntingly; echoing (like an Appalachian valley acoustic). Dazu ist Crumbs Äußerung erhellend: Die Tatsache, daß ich in einem Flußtal in den Appalachen aufwuchs, hatte zur Folge, daß sich mein Ohr auf eine ganz spezielle Echoakustik einstellte; diese Akustik hat sich meinem Gehör gleichsam eingeschrieben und bildet die akustische Grundlage all meiner Musik. […] In einem umfassenderen Sinne müssen sich auch die großen und kleinen Rhythmen der Natur – die Klänge des Windes und des Wassers, die Klänge der Vögel und der Insekten – zwangsläufig in irgendeiner Weise in der Musik widerspiegeln.1 In dieser speziellen Akustik hallt von fern das verzerrte Echo einer protestantischen Erweckungshymne wider: Will There Be Any Stars In My Crown? Bei gehaltenem Pedal legt der Komponist verschiedene Schichten übereinander.

Eine andere Klanglandschaft beschwört das Zitat einiger Verse aus Salvatore Quasimodos Gedicht Isola di Ulisse (1936) in Makrokosmos III herauf: die Meeresoberfläche spiegelt nicht nur die Sterne effektvoll, sondern auch der Schall erhält eine merkwürdige, verundeutlichende Brechung. Dafür drücken die Pianisten die Bass-Saiten stumm nieder, so dass die kurzen Vorschlagsfiguren im mittleren Klavierregister den Eindruck eines Klangraums hinterlassen.

George Crumbs Makrokosmos ist ein Zyklus in vier Großteilen. Der Titel Makrokosmos verweist auf Béla Bartóks Klavierlehrwerk Mikrokosmos. Die ersten beiden Teile Makrokosmos I und II von 1972/73 sind für elektronisch verstärktes Klavier geschrieben. Die Besetzung ist im ein Jahr darauf (1974) entstandenen Music for a Summer Evening (Makrokosmos III) auf zwei elektronisch verstärkte Klaviere und zwei Schlagzeuger erweitert und verweist auf die ebenso besetzte Sonate von Bartók. Im vierten Teil Celestial Mechanics (Makrokosmos IV), Cosmic Dances (1979) geht Crumb auf die reine Klavierbesetzung zurück, allerdings komponiert er hier für elektronisch verstärktes Klavier zu vier Händen.

Crumb selbst beschreibt die Geschichte der Klaviertechniken als eine progressive: Beethovens Erweiterung der Schreibweise für Klavier, zum Beispiel sein differenzierter Einsatz des una corda-Pedals, wurde kurz nach seinem Tod abgelöst von Chopins vollkommen neuer Klaviersatztechnik mit gespreizten Akkordfiguren durch Pedalisierung gemischt. Dessen dunkle Seite sieht Crumb als Einfluss auf den Makrokosmos, in dem Chopins Fantaisie-Impromptu op. 66 auch zitiert wird (Bd. I, 11 Traumbilder). Nach Debussy und Bartók nennt Crumb in diesem Text noch die Innenklavier-Techniken des 20. Jahrhunderts. Die folgende Generation werde immer neue Wege finden, schreibt Crumb. Er selbst verwendet neben verschiedenen historischen Praktiken, die den Makrokosmos zu einem Kompendium der Klaviertechniken machen, die elektronische Verstärkung des Klaviers, damit die forte-Passagen sehr mächtig klingen und wahrscheinlich auch, um eine neue Klangfärbung und Mischklänge zu erzielen. Gleichzeitig erzeugt die Verstärkung von sehr leisen Klängen (fünffaches pianissimo findet sich oft im Makrokosmos) eine Nähe zum Hörer.

Charakterstücke und kleine Formen sind im Klavierrepertoire oft als Zyklen angeordnet, das greift Crumb im Makrokosmos auf groß- wie kleinformaler Ebene und allegorisch auf. Der Tierkreis der ersten beiden Bände verweist auf den Jahreszyklus und es spricht einiges dafür, die vier Teile als Morgen, Mittag, Abend (Musik für einen Sommerabend) und Nacht zu lesen.

Vor allem beginnt Makrokosmos I im Chaos vor der Schöpfung mit Urlauten; das nächste Stück ist auf einer evolutionär fortgeschrittenen Stufe von Einzellern, auf welche die sagenhafte Frühzivilisation Atlantis (ca. 10.000 v. Chr.) folgt, an die wiederum das Jahr Null – oder ca. 30, wenn man im Kreuzessymbol die Kreuzigung Christi sieht – anschließt. Das finstere Mittelalter (Phantomgondolier) und die Reformation (Nachtzauber I mit Hymnen-Zitat) schließen an. Doch wofür steht der symbolische ewige Kreis? Und warum folgt darauf der Abgrund der Zeit, der intratextual den Anfang (Urlaute) wieder aufgreift? Die abschließende Spirale (Symbol Spiral Galaxy) steht für sein Geschichtsverständnis, nach dem es Anknüpfungspunkte an die Vergangenheit gibt, da die Kulturgeschichte spiralförmig, nicht linear verlaufe.

Crumb wiederholt die Schöpfungsgeschichte in Makrokosmos II. Die erste strukturelle Einheit aus vier Stücken beginnt mit der Genesis II und schließt mit der Geburt eines Messias ab (Symbol Zwillingssonnen mit Hymn for the Advent of the Star-Child), worauf die Druiden und die mittelalterlichen Grotesken folgen. Im vorletzten Stück, der Litanei der galaktischen Glocken, gibt es ein unscharfes, surreales, als solches gekennzeichnetes Zitat aus Beethovens Hammerklaviersonate. Der Pianist muss im letzten als Peace-Symbol notierten Stück dann flüstern: Dona nobis pacem, was sich 1973 wohl auf den Vietnamkrieg bezog.

Diese figuralen Notenschriften – jedes vierte Stück ist als Symbol notiert – sind eine nur dem Interpreten zugängliche Textebene, die sich dem Hörer bestenfalls vermittelt in der Interpretation erschließt. In den ersten beiden Bänden wird durch die – wie die Titel von Debussys Préludes – ans Ende jeden Satzes gestellten Initialen auf Komponisten, Dichter und Freunde verwiesen. Diese nachgestellten Monogramme erklären die Sätze zu Charakterportraits und Rätseln, da man erst heraushören muss, für wen die Initialen stehen. Das Visuelle spielt eine entscheidende Rolle in der Rezeption von Crumbs Werken, ohne dass die Notenebene beim bloßen Hören fehlen würde. Musikalische Zitate von Klaviermusik von Bach, Chopin, einer amerikanischen Erweckungshymne werden ergänzt durch Verweise auf Wagner (Liebestod), Bartók (Mikrokosmos), Schubert (Wandererfantasie) und viele andere.

Klangeffekte und differenzierte Spieltechniken sowie musikalische Zitate sind zu einem dichten Netz verwoben. Crumbs kompositorisches Vorgehen scheint sogar explizit vom Höreindruck auszugehen und auf ein auditives Verständnis zu zielen. Ob der individuelle Hörer sich auf die tonalen, die modalen oder die chromatischen Anteile seiner Kompositionen konzentriert, ob er die isorhythmischen Talea, die Fugati oder die rhythmischen Ostinati erkennt, mag Crumb niemandem vorschreiben.

Die kurzen Stücke setzen sich aus motivischen Fragmenten zusammen, die wieder aufgegriffen werden – im Laufe des Satzes und darüber hinaus in anderen Sätzen des Zyklus’. Diese Zellen hat der Komponist mit Buchstaben bezeichnet, so sieht man in Crumbs Skizzen, und er gestaltet mit ihnen den Anfang und das Ende eines Stückes. Der Mittelteil wird auf der Entwurfseite zunächst freigelassen und später mit Permutationen und Varianten der Anfangsmotive aufgefüllt.

In Makrokosmos III juxtaponiert Crumb Pascals latent atheistisches Le silence éternel des espaces infinis m’effraie. (Das ewige Schweigen des grenzenlosen Raumes erschreckt mich.) mit Rilkes Worten des religiösen Trostes Und in den Nächten fällt die schwere Erde aus allen Sternen in die Einsamkeit. Wir alle fallen. Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in den Händen hält. Letzteres Zitat ist dem finalen Satz Music of the Starry Night im dritten Teil Music for a Summer Evening vorangestellt. Hat Crumb hier Ausschnitte aus der Dis-Moll-Fuge (WTC II) von Bach eingearbeitet, weil die sechs vorgeschriebenen Kreuze Sternen gleichen? – Oder weil die Musik für ihn von Gottestrost spricht? Ist auch die Allusion an den Cembaloklang durch Papier auf den Klaviersaiten eine Annäherung an die vergangene Klangwelt?

Nachdem die Sternzeichen die ersten Bände gegliedert haben und literarische Zitate von Sternen und Weltall den dritten Band kontextualisierten, betitelt Crumb die Sätze des vierten Bandes mit Sternennamen. Da es sich um Klavierduos handelt, sind es die Namen von Doppelsternen, die umeinander kreisen. Sie vollführen die kosmischen Tänze und erinnern an die mittelalterliche Sphärenharmonie des Makrokosmos. (Das extrem langsam notierte Tempo in Crumbs Kompositionen übrigens ebenso.) Pierre Simon Laplace beschrieb diese Bewegungen in seinem Traité de mecanique céleste in fünf Bänden von 1799‒1825, dessen englischen Titel Celestial Mechanics, zu deutsch Himmelsmechanik, Crumb übernommen hat.

Wie Ives vor ihm lässt Crumb den Seiten-Umblätterer gegen Ende des dritten und des vierten Tanzes mitspielen. Im abschließenden „kosmischen Kanon“ zu sechs Händen gibt es sieben Systeme mit jeweils eigener Taktvorgabe. Alle Taktangaben zählen 13 Schläge, wenn auch in Anspielung an einen Proportionskanon in unterschiedlichen Dauern, so dass sich immer neue zeitliche Beziehungen der wiederholten Muster ergeben. Jede Stimme stellt eine Umlaufbahn dar, die größer oder kleiner ist als die anderen Stimmen bzw. Sterne. Zahlensymbolisch verwendet Crumb die Sieben und Dreizehn auf verschiedenen kompositorischen Ebenen und nennt sie im Kontext seines Streichquartetts Black Angels die „schicksalshaften Zahlen“ (fateful numbers).
 


Der Text ist im Auftrag der MaerzMusik 2009 für das Ensemble Berlin PianoPercussion entstanden. Nach dem Abdruck im Programmheft wurde er wiederabgedruckt im Booklet zur CD „George Crumb: Makrokosmos I–IV“ von Berlin PianoPercussion, Telos, DDD/LA, 2009 (4930348), 2011. (pdf)

1 George Crumb „Hat die Musik eine Zukunft?“ in: Hermann Danuser; Dietrich Kämper; Paul Terse (Hg.) Amerikanische Musik seit Charles Ives. Interpretationen, Quellentexte, Komponistenmonographien Laaber, 1987; S. 292–299; hier 298. Übersetzung: Felix Meyer.

Erstabdruck: George Crumb „Music: Does It Have a Future?“ in: The Kenyon Review, New Series, Vol. 2, No. 3 (Summer, 1980); S. 115–122; wiederabgedruckt in: Don C. Gillespie (Hg.) George Crumb: Profile of a Composer New York 1986; S. 16–19.