Pflanzenhorror. Vom Paradiesgärtlein zur grünen Hölle

Das Reich der Flora sorgt seit jeher für glückhafte Momente. So gilt der Garten als Paradebeispiel des harmonischen Miteinanders einer Vielfalt von Pflanzen und der anderen Lebewesen, die das Refugium bewohnen. Gärten verströmen Ruhe und Frieden und verheißen mit ihrer Farbenpracht, ihren Blumendüften und frischen Gräsern Lebendigkeit und Glück. Sie eröffnen Räume des Staunens und der Kontemplation. Dabei entfaltet sich das Naturschöne als exemplarische Erfahrung eines gelingenden Lebens. Doch wie zuverlässig ist der eingezäunte Ort der guten Natur? Mit Blick in die Kulturgeschichte zeigt sich jenseits des Gartenzauns eine ganz andere Geschichte der Verflechtung von Pflanzen und Menschen: Literatur, Film und Kunst ergänzen die schöne Blume und die gute Natur um das Bedrohliche und Heimtückische. Sie lassen Pflanzen wuchern, die sich fortbewegen, die verführen, jagen, fressen und töten. Diese werden schlicht zu „Blumen des Bösen“, wie sich der Verlust des paradiesischen Heils- und Glücksversprechens mit Charles Baudelaire umschreiben lässt. Mit Beispielen aus den Künsten beleuchtet der Vortrag, wie unsere Hingabe an Schönheit und Zartheit mit Momenten der Obsession, der Zerstörung und des Verlusts zusammenhängt.

Die gute Natur, die Heilsames bewirkt, ist an die Flora gebunden, weil ihr Wesen mit anderen Eigenschaften belegt ist, als jene, die den räuberischen Charakter von Mensch und Tier offenbaren. Pflanzen umgeben uns täglich still und leise und sind doch ganz anders als der Mensch: gesichtslos, lautlos, körperlos. Sie gelten als passive Mitwesen, deren Betrachtung stets einen rätselhaften Rest offenlässt. Pflanzen sind im Boden verankert und verharren regungslos auf der Stelle. Sie keimen, wachsen, blühen und vergehen wieder, um aus ihren Zerfallsprozessen den Humus für neue Gewächse entstehen zu lassen. Sie beteiligen sich nicht am Lärm der Welt und assistieren dabei einer Natur, die keine Stimme hat und keine Handlung kennt. Kulturanthropologisch werden Pflanzen daher mit einer Lebensform der Selbstlosigkeit imaginiert, denn sie erscheinen als das Genügsame und Sympathetische. Im Mit- und Zueinander der anderen Lebewesen auf dieser Welt brauchen sie nichts weiter als Erde, Licht und Wasser.

In einer dystopischen Epoche, in der Themen wie Klimakrise und Artensterben, Kriege, weltweite Fluchtbewegungen und die Verrohung der Gesellschaft die Gegenwart beherrschen, betreten die Pflanzen die Bühne und geben Hoffnung, dass auf den Trümmern wieder etwas wächst. Lange Zeit nur als Hintergrundkulisse erfahren, steht aktuell ihre fundamentale Bedeutung für unsere Existenz im Fokus. Denn ohne die grünen Sauerstofflieferanten gäbe es kein Leben auf der Erde. Und die Schönheit der Blumen und Blüten weist überdies die kulturelle Performanz von Zerstörung zurück. Besonders der Garten gibt sich als erlebbarer Ort und poetologischer Topos, in dem die menschliche Entfremdung von der Natur einen Ausgleich erfährt, wenn nicht sogar aufgehoben wird, denn Gärten eröffnen Räume zwischen Natur und Kultur. Sie sind Stätten der Formgebung und Architektur, der Ordnung und Übersicht.

Doch zwischen Blumenrabatten und dem Gewirr von Ranken, Gräsern und Halmen entfaltet sich die Ahnung von waltenden Kräften jenseits paradiesischer Vorstellungen. Das Schaudern, das etwa Giftpflanzen und bösartige Alraunen zu erzeugen vermögen, verdichtet sich im Motiv einer unkontrollierbaren und unheimlichen Natur, der Wildnis. Damit hat sich ein kulturelles Konzept etabliert, das sich in Abgrenzung zum Kultivierten als Projektionsfläche für das Fremde und Andere eignet. Aber auch innere Zustände, die mit Kontrollverlust, mit den menschlichen Trieben und dem Albtraumhaften verbunden sind, weil kaum ein menschlicher Zugriff möglich ist, werden hier versinnbildlicht. Das Bild der Wildnis steht für Regression, Verirrung und für die ungezügelte Versuchung, von deren triebhaft böser Seite es sich durch Kultivierung zu befreien gilt. Kultur, die einer potenziell wilden Natur zu Leibe rückt, ist aktuell mit dem Kampfbegriff „Gärten des Grauens“ verbunden. Damit sind totkultivierte Vorgärten gemeint, auf deren „pflegeleichten“ und „unkrautfreien“ Schotterwüsten keine Pflanze und kein Insekt mehr leben kann. „Mehr Wildnis wagen“, ist deshalb das Credo von Naturschützern in diesem Zusammenhang. Sie fordern eine sich selbst überlassene Natur und Kulturbrachen. Die Verkehrung des Kultivierten in das Barbarische hat bereits im 18. Jahrhundert positive Vorstellungen von der Wildnis hervorgebracht. Diese tritt als Gegenwelt einer überformten Kultur an. In einer zur existenziellen Bedrohung werdenden Zivilisation wurde die Gleichsetzung von Wildnis und Paradies zu einem gängigen Topos. Erneuert wird er in der heutigen Naturschutzliteratur mit der Sehnsucht nach unberührter Natur und Schutz für „bedrohte Paradiese“.

Das Kultivierte wird zur Kippfigur und gibt sich selbst als rohe Natur zu erkennen. In den Bildern, die diese Wendung hervorkehren, wuchern Schling- und Würgepflanzen, und es lauern Gefahren im unwegsamen Dickicht – die grüne Hölle: ein Ort der Verdammnis, nicht des Lebens, sondern des Überlebens. „Im gleichmäßigen Grün der Pflanze, in der seriellen Vielheit ihrer Stängel und Blätter leuchtet die radikale Brutalität des Prinzips Leben selbst auf. Es, das Leben, will nichts, als nur weitergehen“, so beschreibt der Schriftsteller Georg Klein „das große grüne Grauen“ in seiner Besprechung des Science Fiction Roman-Klassikers The Triffids von John Wyndham, in dem mordende Pflanzen den gesamten Erdball überwuchern. Diese zur gesichtslosen Gefahr für die Menschheit gewordene unzähmbare Natur entzieht sich in ihrer Entfesselung jeglicher Domestizierung und Ordnung: eine vegetabile Apokalypse, der man blind ausgeliefert ist. Von Bedeutung ist, dass die Triffids von den Menschen selbst in Treibhäusern kultiviert wurden, bevor sie als entwurzelte, sich fortbewegende Zerstörer die Menschheit mit ihren Giftpeitschen drangsalieren.

Der Furor der Pflanze als System- und Ideologiekritik verdeutlicht, dass Schrecken und Zivilisation untrennbar sind. Dies ist nicht zuletzt auch das Thema der preisgekrönten Graphic Novel Endzeit von Olivia Vieweg. Hier sind es menschenfressende Pflanzenzombies, die als gruselige Hybride die Welt beherrschen. Einen Ausweg aus dieser Apokalypse bietet einzig die Gärtnerin.

Als Hüterinnen der Fantasie haben die Künste ein großes Repertoire grenzüberschreitender Pflanze-Mensch-Wesen und Gebilde organisch-technischer Verbindungen hervorgebracht. Sie nehmen vielerlei Gestalt an und lassen sich als Projektionsflächen menschlicher Ängste, Sehnsüchte und Wünsche begreifen. Dies thematisiert auch Wangechi Mutu in ihrem Werk, das bevölkert ist von pflanzlich-tierischen Zwitterwesen, die arcimboldeske Gestalten hervorbringen. Die Redewendung, dass die Natur „explodiert“, wenn sie in voller Blüte steht, findet in einer Reihe von Arbeiten ihre buchstäbliche Entsprechung. Auseinandersprengende knallrote Blütenstände schleudern ihre Pollen wie Blutspritzer durch die Luft, während in dunklen Wurzelreichen bedrohliche Rhizome wie gefräßiges Gewürm kriechen. In ihrer Collage This You Call Civilization? aus dem Jahr 2008 scheint sich eine medusenhafte Kreatur selbst zu zerfleischen. Sie erwächst aus grünen, in zermalmenden Rädern endenden Pflanzenstängeln und gedärmartigen Windungen. Bei genauerer Betrachtung lösen sich aus dieser Wildnis erkennbare Figuren heraus, die Pflanzlich-Triebhaftes in Fleischlich-Leibhaftes übergehen lassen.

Das kulturelle Bilderreservoir des Pflanzenhorrors zielt auf eine Verkehrung der normativen moralischen Ästhetik einer guten Natur. Während die wilde Natur als „bedrohtes Paradies“ zu einem Bild der Idylle werden kann, verkommt die Zivilisation zu einer rohen, unwirtlichen Wildnis. Und am Ende ist auch der Paradiesgarten – wie zu sehen sein wird – ein bedrohter Ort, dem die eigene Verlustgeschichte eingeschrieben ist.

Judith Elisabeth Weiss | Wiederholung des Vortrags am 09.11.2023, Botanischer Garten Wuppertal