Sieh doch die Harlekine

1. Die Sprache der Natur

Der Kosmos als lebender und harmonischer Organismus gehört zu den langlebigsten Ideen der Philosophie. Noch Carl Friedrich von Weizsäcker bezeichnet mathematisch-physikalische Formeln als „Stenographie der Natur“.¹ Ist Natur lesbar? Und auch wenn komplexe Informationsströme nachweislich sogar zwischen Pflanzen unterschiedlicher Arten bestehen, bedeutet es, dass Natur kommuniziert? Die Frage einer „Sprache der Natur“ setzt eine Klärung des Naturbegriffs voraus. Und da dieser wiederum stark vom Selbstverständnis des Menschen abhängig ist, können Diskursfelder in einer Schnittmenge zwischen „Natur“ und Mensch vielversprechende Ansatzpunkte zu dieser Klärung sein. Als eines dieser Felder ist die Gartenkultur zu nennen, in deren wechselhafter Geschichte wichtige Ideenstränge innerhalb des Naturdiskurses aufleuchten. Ohne jeglichen Anspruch auf Vollständigkeit sollen im Folgenden unterschiedliche Gartennarrative auf die in Ihnen abgebildeten Naturbegriffe befragt werden.²

2. Künstlerische Gärten: Ordnung oder Freiheit?

Seit der Erzählung von Eden assoziieren wir mit Gärten Orte gesetzmäßiger Harmonie, die den Keim widerspenstiger Freiheit in sich tragen können: eine Dichotomie, die sich als roter Faden durch die Geschichte der abendländischen Gartenkunst zieht. „Garten“ und „hortus“ (lat.) leiten sich etymologisch von „Gerte“ ab, also biegsamen Zweigen, die miteinander verflochten wohl die frühesten Garteneinfriedungen bildeten. In Garten/hortus steckt das indogermanische „cart“, von dem sich auch die Bezeichnungen für Burg (slawisch) und für Herrschaftsgebiet (altnordisch) ableiten: Garten bezeichnet ursprünglich einen umzäunten Freiraum, in dem im frühen Mittelalter Nutzpflanzen kultiviert werden. Die Gärten der Renaissance sind oft in Einzelgärten mit einem speziellen Programm unterteilt: Küchen-, Baum- oder Blumengärten u. a. m.. Viele dieser Anlagen sind mit Kleinarchitekturen, Buchsbaumskulpturen oder antiken Plastiken geschmückt. Derart komplex, werden sie bald als eigenständige Kunstgattung, als „Gartenkunst“, betrachtet.

Im Barock werden die Beetstrukturen in komplizierte geometrische Formen aufgelöst. In diesen „Kompartimenten“ werden teilweise ornamentale Muster – „Broderien“ – gepflanzt, und auch Einzelpflanzen werden in Form geschnitten und gezogen. Ein allegorisches Figurenprogramm macht diese Gärten lesbar: So muss eine Welt aussehen, in der göttliche Ordnung und Harmonie herrschen. Die „Gartenrevolution“ der Aufklärung verwirft diese geometrische Ordnung als widernatürlich. Die Böden dieser Gärten werden daher modelliert, Gehölze wachsen nach ihrem natürlichen Habitus und Wege verlaufen in Schlangenlinien. Natur wird hier als Freiheit verstanden. Doch Gartenkünstler des späten 19. Jahrhunderts werden auch diesen Stil als unnatürlich verwerfen und wieder nach geometrischer Ordnung verlangen. Ist Natur also durch selbstimmanente Gesetze bestimmt oder durch unbändige Freiheit?

3. Religiöse und wissenschaftliche Gärten: Eros oder Psyche?

Neben dem Widerspiel von Ordnung und Freiheit behandelt die Schöpfungsgeschichte auch die Dichotomien von Gut/Böse, Frau/Mann oder Geist/Körper. Dabei tendieren die mittelalterlichen Exegeten dazu, diese Konzepte zusammenzufassen: geistig und ordnungsliebend auf der männlichen Seite, fleischlich und eigensinnig auf der weiblichen. Auch dies hat die Gartenkultur und ihr Naturbild geprägt.

Der Garten als erotischer Raum

Die Metapher vom Garten als begehrte Frau und vom Gang in den Garten als sexueller Akt ist schon aus dem Hohelied Salomos, entstanden zwischen 300 vor und 500 nach Christus, bekannt. Eine erotische Aura umgibt noch viele Gartenbilder des Mittelalters. Im Roman de la Rose aus dem 13. Jahrhundert gelangt der männliche Protagonist in einen mauerumschlossenen, paradiesischen Garten und erblickt darin eine Rose, in die er sich sofort verliebt. Nach vielen Schwierigkeiten gelingt es ihm, sie zu pflücken. Zeitgenössische Illustrationen belegen die Rose als Metapher für eine Frau. Diese Rollenverteilung widerspricht jedoch dem kirchlichen, aus der Genesis überlieferten Bild der Frau als Verführerin. Und so wird dieses Gartenbild in andere, gewünschte Narrative aufgelöst und in Bildwerken des 15. Jahrhunderts verbreitet.

Der Garten der Gottesliebe

Im ersten Narrativ wird die Rose/Frau im Garten einfach zur „Madonna im Rosenhaag“ verklärt, unerreichbar und sündenfrei. Im zweiten Narrativ tauschen Begehrender und der Begehrte die Rollen: Im Garten Gethsemane erscheint der auferstandene Christus der Maria von Magdala, die vor seinem Grab getrauert hat und ihn zunächst für den Gärtner hält. Als sie ihn schließlich erkennt und berühren will, weist er sie mit den Worten „Noli me tangere“ – „Halte mich nicht zurück“ oder „Berühre mich nicht“ – zurück. Als zwar geläuterte, doch ehemalige Prostituierte geltend, verkörpert Maria von Magdala hier die sinnliche Frau, die der Mann zurückweist, weil er die Gottesliebe im Sinn hat. Das beliebte Bildmotiv dürfte auch Marias Irrtum verbreitetet haben, Christus mit der Gärtnerei in Verbindung zu bringen und Gartenarbeit als besonders gottgefällig zu begreifen.

Von der körperlichen zur seelischen Heilkraft der Pflanzen

Während mittelalterliche „Kräuterbücher“ sich Arzneipflanzen widmen, beschreiben seit Mitte des 16. Jahnhunderts „Pflanzenbücher“ auch andere bekannte Gewächse. Mit der großen Zahl beschreibungswürdiger Pflanzen beginnt man in dieser Zeit, auffällig blühende Arten zu bevorzugen und in aufwendig illustrierten „Florilegien“ zu versammeln,³ in denen eine religiöse Verehrung pflanzlicher Schönheit spürbar werden kann. So erläutert Maria Merian in Ihrem „Blumenbuch“ von 1680, die „Beschauung solcher Blumen“ könne „diejenigen [...] mit blinden Augen sehend machen.“⁴ In seiner vielfach aufgelegten Gedichtsammlung „Irdisches Vergnügen in Gott“ weitet Barthold Heinrich Brockes ab 1724 das Gebiet nochmals aus und besingt auch Gewächse wie Gras und Moos mit religiöser Ergriffenheit. Bis ins späte 18. Jahrhundert wird der Botanik daher neben der wissenschaftlichen oft auch eine sittlich-religiöse Bedeutung zugeschrieben.

Gottes Gedanken nachdenken

Spätestens seit Aurelius Augustinus existiert die Idee vom „Buch der Natur“, das zur Gotteserkenntnis führen kann. Auch Johannes Kepler versucht, in der Weltharmonik die Sprache Gottes zu entschlüsseln, und noch Jean-Jacques Rousseau vertraut darauf, in der wissenschaftlichen Pflanzenkunde der Natur auf die Spur zu kommen:

Herr von Linné, fahren Sie damit fort, uns Menschen das Buch der Natur aufzuschließen und zu erklären.⁵

Die Kenntnis des Pflanzenreichs ist für Rousseau an die Stelle der Gotteserkenntnis getreten. Und wenn Kepler sogar in den Bahnen toter Himmelkörper die göttliche Harmonie ausmacht, um wieviel besser sollte sie bei lebenden Pflanzen zu sehen sein? Erst die „Entwicklung der Arten“ von 1861 setzt den Hoffnungen vieler Botaniker, dass eine innere Harmonie die Welt und die Erscheinungen des Pflanzenreichs durchdringt, wohl ein Ende: Charles Darwin findet die Ordnung der Natur nicht in Harmonie, sondern in Mutation und Selektion, also in Chaos und Brutalität: Ist dies die Sprache der Natur?

4. Philosophische Gärten: Dialektik der Natur

natura vs. physis

Der Begriff Natur als „physis“ bezeichnet bei Homer das Wachsen und Werden einer Pflanze, das Sich-selbst-Hervorbringen in einem autonomen Prozess. Dem lateinischen „natura“ (von nasci = geboren werden) liegt dagegen ein Passivum zugrunde. Natur kann damit als passiv und abhängig (Natura naturata: die geschaffene Natur) gedacht werden, oder als aktiv und autonom (Natura naturans: die schaffende Natur).

Wird die Entwicklung nach selbstimmanenten Gesetzen bzw. Kräften als Totalität gedacht, Natur also als aktiv und allumfassend gedeutet, so kann sie mit dem ähnlich vieldeutigen Begriff der Gottheit verschmelzen (Pantheismus) oder ihn ersetzen (Naturalismus). Da ein so umfassender Naturbegriff aber zur Worthülse zu verkommen droht – wenn Alles Natur ist, kann nichts Spezifisches mehr damit bezeichnet werden – wird Natur häufig in eingeschränkter Bedeutung, als Gegensatz zu anderen Begriffen benutzt. Die im konkreten Fall gemeinte Bedeutung von Natur erschließt sich dann durch den jeweiligen Komplementärbegriff: z. B. Geist, Kultur, Technik oder Kunst. In diesen Fällen steht Natur für dauernde Selbstreproduktion, der der Mensch sein überlegenes Schaffen entgegensetzt. Gemeinsam setzen diese eingeschränkten Bedeutungen den Menschen als Gegenüber der Natur voraus, die damit als Umwelt gedacht wird. Als Restmenge entzieht sich Natur einer Definition, während sie als Totalität nur im metaphysischen Verschmelzen mit dem Ganzen der Welt erfahrbar ist. Dem Verstand so stets unzugänglich bleibt Natur doch ein unverzichtbarer Bezugspunkt unseres Denkens.

Vom Anderen zum Abstrakten

In der griechischen Antike bildet sich eine zunehmende Trennung zwischen Mensch und Natur aus. In einer fortschreitenden Abstraktion des Naturbegriffes suchen Philosophen wie Thales und Anaximander den Urgrund der Natur in „Grundsubstanzen“ wie Wasser oder Luft. In Zahlen, glaubt Pythagoras später, liege das Wesen der Dinge.

Vom Fleischlichen zum Vernünftigen

In der christlichen Tradition wird die Trennung des Menschen von der Natur sogar zur Forderung erhoben: Paulus und Augustinus sehen die Überwindung des natürlichen Menschen als Bedingung, um sich Gottes Geist zu öffnen. Den Abstand zwischen Mensch- und Naturbegriff zunächst vergrößernd, bereitet diese moralische Natursicht einer Auffassung den Boden, die beide Begriffe wieder aneinanderbindet.

Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers hervorgegangen ist; alles entartet unter den
Händen der Menschen.⁶

In seiner fundamentalen Zivilisationskritik deutet Rousseau Natur als moralisch und vernünftig. Durch die Ableitung ethischer und ästhetischer Kriterien aus der Natur soll es gelingen, die Kluft zwischen Mensch und Natur zu verringern. Dieses Bestreben bildet sich im 18. Jahrhundert auch in der Gartenkunst ab. Die Idee einer Kongruenz zwischen Natur und Mensch wird zu einem Antrieb der „Gartenrevolution“ in der Zeit der Aufklärung. Die Befreiung der Pflanze von der Herrschaft der Schere symbolisiert auch die Befreiung des Menschen aus sozialer Knechtschaft.

Von der Kongruenz zur wechselseitigen Anschauung

Man veredelt die Pflanzen durch die Zucht, und die Menschen durch die Erziehung.⁷

Von einer Kongruenz zwischen Mensch und Natur überzeugt, setzt Rousseau auf Kultivierung: Für den Menschen als Teil von Gottes Schöpfung sei das pädagogische Ziel „das [Ziel] der Natur selbst“. Müssen Mensch und Natur also gar nicht widersprüchlich sein? Doch welches wäre dieses gemeinsame Ziel? Und ist die Natur selbst die größte Gestalterin, der alle menschlichen Künste nachzueifern haben, oder kann der Menschen die Natur überhöhen?

Kurzzeitig wird der Gartenkunst eine Sonderstellung vor anderen Künsten zugesprochen, da sie mit der Natur selbst arbeite und am unmittelbarsten die Sinne anspreche. Goethe sieht in Kunst „Naturwerke von Menschen“. Wo ließe sich dies besser zeigen als in der Gartenkunst? Mit der Idee vom Menschen als schöpferischen Teil einer schöpferischen Natur scheint die Aufhebung des Widerspruches zwischen Natur und Mensch gelungen.

Auch der Aktiv-/Passiv-Gegensatz scheint auflösbar, werden Natur und Mensch als Entwickelndes und zugleich Entwickeltes verstanden. Diesen Gedanken entwickelt Friedrich Schelling (1757-1854) weiter: Für ihn beginnt Kunst mit Naturnachahmung, die mit der Zeit zu immer höheren Darstellungen gelangt und schließlich in einer geistigen Verbindung des Menschen zur Natur mündet. Andersherum betrachtet strebe die rohe Materie wie blind nach geistigen Formen.

Diese geistige Bewegung zwischen zwei Polen – den Erfahrungen der Verschiedenheit vom Ganzen und der Einheit mit ihm – fasst nun Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) als Selbstbewusstsein auf. In letzter Konsequenz, so Hegel, fallen die beiden Pole „ineinander“,⁸ werden transzendiert. Hegel selbst verweist darin auf Meister Eckhart (1260-1328):

Das Auge, mit dem ich Gott sehe, ist dasselbe Auge, mit dem Gott mich sieht.⁹

Wenig beachtet vom naturphilosophischen Diskurs entwickelt der schwedische Gartenautor Olof Eneroth (1826-1881) ab den 1850er Jahren eine bemerkenswerte Spielart dieser prozessualen Auffassung. Mit Schelling postuliert er eine wechselseitige Veredlung: In der künstlerischen Steigerung der Natur entwickelt der Mensch auch sich selbst, und die Natur steigert sich nochmals in ihm:

Der Mensch ist der Natur Herr, heißt es. Nicht bloß ihr Herr, ihr Auge ist er.¹⁰

Auch Eneroth denkt die Einheit von Mensch und Natur als Aufwärtsspirale zwischen den Polen, die neben geistiger und physischer auch die künstlerische Veredlung miteinschließt. Doch in den theoretischen Abhandlungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts verschwinden Natur und Kunst als zusammenhängendes Begriffspaar und tauchen im zwanzigsten Jahrhundert als Gegensatzpaar wieder auf.

5. Verschwundene Gärten: Distanz als Erlösung

Wenn die Einheit mit der Natur unmöglich ist, könnte in der unaufhebbaren Distanz der Schlüssel zu etwas noch Größerem liegen?

Tschechows untergehende Gärten

Einen tiefen Graben zwischen Mensch und Natur postuliert der Schriftsteller Anton Tschechow (1860-1904). Die Protagonisten in seinem Werk verklären Natur und Gärten oft zu Orten moralisch-sozialer Reinigung. Ihre auf eine Ewigkeitsperspektive angelegten Utopien finden in zeitlos imaginierten Gärten ihr Pendant. In Desillusionierung der Träumer und im Untergang ihrer Gärten enden diese Utopien. Tschechow nutzt dabei die religiöse Bedeutungsaufladung des Gartens als zeitlosen Erziehungs- und Verfehlungsraum und kontrastiert sie mit natürlich-zeitlichem Wandel. Die Erzählungen spiegeln auch die eigene Erfahrung insbesondere seiner letzten Lebensjahre. Im warmen Klima der Krim versucht er erfolglos, seine Tuberkuloseerkrankung zu kurieren. Die Abgeschiedenheit und das Bewusstsein seines körperlichen Verfalls sind Anlass genug, über Zeit, Verlust und Sinngebung zu reflektieren. Und obwohl auch sein geliebter, eigenhändig gepflanzter Garten früher oder später seiner eigenen Auflösung wird folgen müssen, verzweifelt Tschechow nicht am Scheitern seiner Bemühungen, sondern deutet gerade die Gleichgültigkeit der Natur als Rettung:

Und in dieser Beständigkeit, dieser völligen Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben und dem Tod eines jeden von uns liegt vielleicht das Unterpfand unseres ewigen Heils, der ununterbrochenen Bewegung des Lebens auf Erden und der ununterbrochenen Vollkommenheit.¹¹

Nabokovs verlorene Gärten

Vladimir Nabokov (1899-1977) wächst mit dem Wohlstand einer der vornehmsten Familien des Landes auf. 1917 zwingt ihn die Oktoberrevolution ins Exil. Heimatverlust und die Gärten seiner Kindheit werden ihm zu literarischen Leitmotiven. In den neunzehn Jahren, die er in den USA lebt, zieht er vierzehnmal um. Als Hauptgrund seiner Ruhelosigkeit vermutet er, dass ihn nichts zufriedengestellt hätte, was hinter einer Nachbildung seiner Kindheitsumgebung zurückgeblieben wäre. Später entscheidet er sich für eine Dauersuite in einem Luxushotel. Die Gärten seiner Kindheit sieht er nie wieder, gewinnt sie jedoch auf andere Weise zurück.

‚Hör auf, Trübsal zu blasen [...] Sieh doch die Harlekine!‘
‚Was für Harlekine? Wo?‘
‚Na, überall. Bäume sind Harlekine, Wörter sind Harlekine. [...] Los doch! Spiel! Erfinde die Welt!
Erfinde die Wirklichkeit!‘¹²

Diesem, seiner fiktionalen Autobiografie entnommenen Rat seiner Großtante folgt er in zahlreichen literarischen Variationen und reichert sie mit Bedeutungserweiterungen an, die über die realen Gärten hinausgehen. Bereits in seinem Frühwerk definiert Nabokov dies als Wiedergewinnung vergangener Realität, als das Wirken eines „Gott[es], der eine untergegangene Welt noch einmal erschuf.“

Im Gegensatz zu Tschechows Heilserwartung durch eine ewige und indifferente Natur sieht Nabokov die Fiktion als der sogenannten Realität als weit überlegen an:

Wie klein der Kosmos ist [...], wie dürftig und belanglos, verglichen mit menschlichem Bewusstsein, mit einer einzigen individuellen Erinnerung und ihrem sprachlichen Ausdruck!¹³

6. Eine Welt im Kopfe

Wenn wir mit Wittgenstein annehmen, alle Philosophie sei bestenfalls Sprachkritik, so ist Natur wohl nur als Fiktion begreifbar. Schon Hölderlins „An die Natur“ endet mit der wehmütigen Erkenntnis, dass wir die Natur nie erfragen werden, wenn uns nicht ein Traum von ihr genügt. Nabokov hätte Hölderlin die Wehmut vielleicht vertreiben können. Nur ein Traum? Sieh doch die Harlekine! Und er würde sich dabei mit Schelling einig wissen, der ebenfalls wenig Grund zum Verzweifeln sah, denn:

[...] was ist der ganze Ruhm des scharfsinnigsten Zweiflers gegen das Leben eines Mannes, der eine Welt in seinem Kopfe und die ganze Natur in seiner Einbildungskraft trug?¹⁴

Joachim Schnitter

1 Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Sprache der Physik. In: Ders., Die Einheit der Natur: Studien. München 1974, S. 61-83, hier S. 70.
2 Dieser Artikel basiert zum Teil auf früheren Untersuchungen des Verfassers und verzichtet aus Gründen der Lesbarkeit auf die dortigen Nachweise. Zu Kapitel 4 vgl. Schnitter, Eine Welt im Kopfe: Überlegungen zum Naturbegriff. In: Die Gartenkunst Jg. 12 (2003), Heft 1, S. 1-3). Zu Kapitel 5 vgl. Schnitter, Gärten als Kristallisationen von Zeit und Verlust bei Anton Tschechow und Vladimir Nabokov. In: Die Gartenkunst, Jg. 22 (2013), Heft 1, S. 231-238.
3 Michael Jakob, Einleitung. In: Spiegel der Natur: Kräuterbücher aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Hg. von Michael Jakob und Eva Raffel, Trient 2023, S. 15-23, hier S. 21.
4 M. S. Gräffin, M. Merians des Eltern seel: Tochter. Neües BlumenBuch (Band 1), Nürnberg 1680, Vorrede.
5 Rousseau, Brief an Carl von Linné vom 21.9.1771. Zitiert nach Ruth Schneebeli-Graf, Botanik im Leben des Jean-Jacques Rousseau. In: Jean-Jacques Rousseau, Botanik für artige Frauenzimmer. Lehrbriefe für eine Freundin, Frankfurt, 1979, S. 140.
6 Jean-Jacques Rousseau: Emil oder Über die Erziehung. Frei aus dem Französischen übersetzt von Hermann Denhardt. Neue Ausgabe, Band 1, Leipzig [o. J], S. 13.
7 Ebd., S. 13ff.
8 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, Leipzig 1949, S. 134-138.
9 Ders., Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Hamburg 1966, S. 257.
10 Olof Eneroth, Trädgårdsodling och Naturförsköningskonst I, Stockholm 1857, S.85.
11 Anton Tschechow, Die Dame mit dem Hündchen. In: ders., Die Dame mit dem Hündchen: Erzählungen 1896-1903. München 2009, S. 340-362, hier S. 347 f..
12 Vladimir Nabokov: Durchsichtige Dinge. Sieh doch die Harlekine! Späte Romane, Reinbek 2002, S. 188.
13 Ders., Erinnerung, sprich: Wiedersehen mit einer Autobiographie, Reinbek, 1991, S. 27.
14 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur, S. 10. Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, S. 35641.