Musique de scène - ein Interview

Zwischen den Künsten (Auszug)
erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik 03/2017, Seite 8

Der französische Komponist Jean Barraqué (1928-73), in jungen Jahren Wegbegleiter von Pierre Boulez, hat ein sehr schmales, nur sieben Werke umfassendes Gesamtwerk hinterlassen. Nun gelangen einige Frühwerke erstmals an die Öffentlichkeit. Der Musikwissenschaftler Laurent Feneyrou, Herausgeber der neuen Partitur der Musique de Scène, hat sich in besonderer Weise als profunder Kenner von Barraqués Musik dafür eingesetzt. Martin Kaltenecker hat ihn dazu befragt.

Martin Kaltenecker: Michel Foucault hat einmal von Jean Barraqué gesagt, er sei «einer der genialsten und der verkanntesten Musiker seiner Generation». Wie würden Sie sein Werk aus heutiger Sicht beschreiben?

Laurent Feneyrou: Barraqué hat uns eigentlich nur sieben Werke hinterlassen, also knapp vier Stunden Musik, aber sie bilden eine Art ars reservata von kristallener Schönheit. Zugleich ist es eine glühende, konvulsive Musik, die weder Ruhe noch Tröstung kennt. Die strengen Anforderungen, die Barraqués Denken an sich selbst stellte, die Präzision, die Verbindung von Vernunft und Gewalt machten dann aus seiner Biografie ein Drama voll übermenschlicher Anstrengungen, auf der beständigen Suche nach einem Absoluten, nach etwas Erhabenem.

Martin Kaltenecker: Kann man von einer ethischen Komponente seiner Kunst sprechen?

Laurent Feneyrou: Sie rührt gewissermaßen von dem radikalen Bekenntnis zu den Prinzipien und den Werten des Serialismus her, das für ihn einer Askese gleichkam, also zugleich einer Ethik und einer Ästhetik der Existenz. Er hat einmal gesagt: «Ich glaube, dass die Musik mich daran gehindert hat, ein Schwein zu werden.» Man kann also von einer moralischen Verantwortung vor dem Klang sowie der Form, die aus ihm gewonnen wird, sprechen. Es gibt bei Barraqué eine rigorose und manchmal etwas pathetisch daherkommende Verzweiflung an einer von Gott verlassenen Welt, die keine Frivolität kennt. Olivier Messiaen, bei dem er am Konservatorium von Paris Ende der 1940er Jahre studierte, hat einmal von seinem Studenten gesagt: «Er war der Idealtypus des rigorosen seriellen Komponisten, der keinerlei Kompromisse machte und nur strenge und lang durchdachte Werke schrieb. Jean Barraqué verdient eine grenzenlose Bewunderung für den Ernst, die Perfektion, die Vornehmheit seiner Kunst und seines Denkens.»

Martin Kaltenecker: Wie würden Sie seine Entwicklung beschreiben?

Laurent Feneyrou: 1952 beendet Barraqué die Lektüre von Kierkegaards Versuch über die Verzweiflung sowie seine Sonate für Klavier, die erst 1967 uraufgeführt wurde. Sie steht in der Nachfolge von Beethovens Dialektik und tritt einen Kampf mit dem Negativ des Klangs – also der Stille – an, die die Musik wie ein schleichendes, drohendes Element unterhöhlt. Mit seinem Freund Michel Foucault vertieft er sich dann in die Gedankenwelt Nietzsches, er liest Also sprach Zarathustra und vertont Gedichte von ihm in Séquence (1950–55) für Sopran, Schlagzeug und Ensemble, sein erstes Werk, das in Pierre Boulez’ Konzertreihe «Domaine musical» aufgeführt wurde. Er kombiniert hier im letzten Satz die zwei Reihen, die den beiden ersten Sätzen zugrunde liegen.

Foucault hat ihm dann 1955 die Lektüre von Hermann Brochs Tod des Vergil empfohlen sowie den brillanten Kommentar dieses Romans von Maurice Blanchot. Bei Broch geht es um die eventuelle Zerstörung der Aeneis, der Dichter fragt sich, ob er sein Hauptwerk nicht verbrennen sollte. Genau am Samstag, den 24. März 1956, im Zuge der Trennung von Foucault, entwirft Barraqué dann den Gesamtplan eines umfangreichen Zyklus, den er bis zum Ende seines Lebens zu vollenden gedenkt und an dem er in der Tat bis zu seinem Tode arbeitete. Aus dem zweiten Buch von Brochs Roman Feuer – der Abstieg zieht er Le Temps restitué [Die zurückgegebene Zeit] (1956–68) für Sopran, Chor und Orchester, sodann ... au-delà du hasard [Jenseits des Zufalls] (1958–59) für vier Instrumental- und ein Vokalensemble und schließlich Chant après chant (1965–66) für sechs Schlagzeuger, Stimme und Klavier.

Barraqué dachte an weitere Werke nach Broch, aber die Skizzen dazu blieben liegen, und er bekannte sich auch zu dieser Unterbrechung: «Ich möchte dieses Werk als unvollendet auffassen. Ich sage mit Bedacht ‹unvollendet›, denn es wird nie beendet werden. Ich will, dass der Tod es vollendet, oder vielmehr ‹unvollendet›, aber auch, dass weitere Stücke entstehen, parallele Werke, Marginalia, die dem Tod des Vergil wie aus einem Keim entsprießen.» Und schließlich komponierte Barraqué sein Concerto (1962–68), für Klarinette, Vibrafon und sechs Instrumentalgruppen, das einer solch komplexen seriellen Struktur gehorcht, dass es praktisch nicht mehr analysierbar ist.

Martin Kaltenecker: Wie war sein Verhältnis zu Boulez?

Laurent Feneyrou: Boulez und Barraqué lernten sich 1950 in der Klasse von Messiaen kennen, wo Barraqué damals seine zweite Klaviersonate analysierte. Es gab zu jener Zeit einen regen Ideenaustausch in Bezug auf das Livre pour quatuor und Polyphonie X, wovon sein Briefwechsel zeugt, unter anderem mit Karel Goeyvaerts. Analysen der Stücke von Boulez in Barraqués Artikel «Rythme et développement» lassen vermuten, dass Boulez seinem jüngeren Kollegen Dokumente zur Verfügung stellte.

Barraqué schrieb auch Artikel für die Programme des «Domaine musical», und Boulez dirigierte 1960 die Uraufführung von ... au-delà du hasard. Die stilistischen Unterschiede wurden jedoch immer stärker spürbar – einerseits die pathetische Eloquenz von Barraqué, andererseits die gleißende Kunst von Boulez, der sich auf Mallarmé beruft. Wenn der Kreis um Barraqué dann von einem neuen «Exotismus» im Marteau sans maître sprach, von einem «seriellen Mendelssohn», wenn sich auch Barraqué selbst von Boulez distanziert hat, so bleibt doch die Tatsache, dass drei der sechs Werke bei «Domaine musical» uraufgeführt wurden und dass Boulez 1981 Séquence mit dem Ensemble Intercontemporain aufführte, wenn er auch weiterhin Vorbehalte hatte.

Martin Kaltenecker: Gab es eine Rezeption Barraqués nach seinem Tod?

Laurent Feneyrou: Da wären mehrere Artikel von Bill Hopkins zu nennen, eine Nummer der Zeitschrift Entretemps 1987 und dann die systematische Analyse der sieben Hauptwerke in Heribert Henrichs Das Werk Jean Barraqués: Genese und Faktur (1997). Ein Jahr später erschien die Neueinspielung des Gesamtwerks vom Klangforum Wien, und 2003 dann das Buch von Paul Griffiths The Sea on Fire (2003). Seither existiert die von Rose-Marie Janzen ins Leben gerufene «Association Jean Barraqué». Sie bewahrt einige Manuskripte des Komponisten auf und versucht seine Werke und sein Denken zu verbreiten.

Martin Kaltenecker: Hatte Barraqué auch szenische Projekte?

Laurent Feneyrou: Barraqué dachte an eine Oper L’Homme couché [Der liegende Mann], von der wir nur einige wenige Skizzenblätter haben. Ein Mann liegt im Sterben und betrachtet das Meer und die Wellen, wie im dritten Akt von Wagners Tristan. Es gibt eine ganze Reihe von Themen, die auftauchen sollten - die Liebe, die Rache, die Revolte, der Inzest, die Freundschaft, die Kindheit, die Homosexualität, der Sadismus, das Genie, die tödliche Krankheit, die Metamorphose, die Fehlleistungen, die Sehnsucht, und wiederum Nietzsches «inspirierter und positiver Wahn».

Übersetzung: Martin Kaltenecker