Dezember 2018, Der Neue Merker, Karl Masek

Die Irrfahrten des Matrosen „Gale“

Der Matrose „Gale“ aus New Orleans verlässt in Antwerpen sein Schiff, die Tuscaloosa, um einen feuchtfröhlichen Abend mit einem Mädchen zu verbringen. Prompt versäumt er das Schiff, auf dem sich seine Papiere befinden. Und er sieht sich unversehens auf der Seite der Rechtlosen. Überall ein Illegaler, der nicht einmal seine Identität nachweisen kann. Überall abgeschoben, nirgends geduldet, als „Illegaler“ nirgendwo mit Existenzrecht. Niemand fühlt sich zuständig. Also bleibt ihm nur noch die Odyssee nach Holland, nach Frankreich, wo er in Marseille strandet. Auf einem ruinösen Schiff, der Yorikke, muss er sich als Heizer (ausgebeutet in Sklavenfron) verdingen, illegale Waffen an Bord. Die Irrfahrt geht weiter über Dakar bis Madagaskar, das Schiff Empress ist ein Versicherungsfall, der für die Compagnie das beste Geschäft ist, wenn es kentert. Das Schiff fährt auf einem Riff auf, kentert tatsächlich, nur Gale und der Pole Stanislaw können sich retten – bis Stanislaw den Verstand verliert und sich ins Meer stürzt. Und all die toten Illegalen, sie gehen ohnehin niemandem ab, weil sie offiziell gar nicht mehr existieren …

Vom „Lucona“-Skandal des Jahres 1977 bis zu aktuellen Flüchtlingskatastrophen: jede Menge Assoziations-Stoff im Roman von B. Traven aus dem Jahr 1926 mit der flammenden Anklage an die damaligen Zeitumstände.

Kristine Tornquist ist die Librettistin, gleichzeitig für die Regie verantwortlich. Sie pfropft dankenswerter Weise nichts auch noch extra auf, lässt dem mündigen Publikum Zeit und Raum für eigene Gedankengänge zu den ohnehin naheliegenden aktuellen Bezügen. Die absurden Situationen, in die der Ausweislose schlittert, Behördenwillkür und –ratlosigkeit, wie man den lästigen Illegalen am besten loswerden könnte, entbehren dabei nicht einer tragikomischen Note. Tornquist unterstreicht dies mit einer gekonnten Bewegungschoreographie, die mitunter ins Tänzelnde abdriftet, damit aber auch die brutale Realität verharmlosend glättet. Doch es ist eine Inszenierung, die hervorragend mit dem eingängigen Stilmix der Musik des Österreichers Oskar Aichinger korrespondiert.

Wieder einmal stellt man verblüfft fest, mit wie wenig Mitteln das sirene Operntheater  spannendes Musiktheater in einer plausiblen Bühnenlandschaft in den „Reaktor“ der Geblergasse  gestellt hat. Ein paar Segel, Seile, ein paar Kisten. Ein Videodesign, das an „Als-die-Bilder-laufen-lernten“ erinnert. Tornquist und Nora Scheidl (Kostüme), Max Kaufmann und Mirijam Mercedes-Salzer (Bühne), Edgar Aichinger (Technik) und Jury Everhartz (Produktion) – sie verstehen ihr Theaterhandwerk!

Genaueres zum Komponisten: Oskar Aichinger (* 1956 in Vöcklabruck, OÖ, lebt in Wien) hat eine besonders interessante Biografie. Er studierte Montanistik in Leoben, Musik am Mozarteum Salzburg. Er war in den achtziger Jahren Ballettkorrepetitor an der Wiener Staatsoper, anschließend hauptsächlich als Pianist und Improvisator an der Schnittstelle Jazz / Neue Musik tätig. Komposition der Kammeroper "Der entwendete Taler" (UA 2009), die Operette Fledermaus returns (UA 2012), eine CD-Veröffentlichung von Cosmos Lutoslawski, die mit dem Pasticcio-Preis von Ö1 ausgezeichnet wurde. Aber auch für das Wienerlied-Festival ‚Wean hean‘ arbeitete er einige Jahre. Also die Vielseitigkeit in Person!

Die Musik zum „Totenschiff“ pendelt zwischen Sequenzen, die man dem New Orleans-Jazz zuordnen könnte. Es „brechtet“, es „weillt“, es „eislert“, bleibt fast durchwegs in tonalen Bahnen. Obsessive, pulsierende Rhythmik, auch Geräuschhaftes, wird nicht ausgespart. All das ergibt einen Spannungsbogen, der 100 Minuten lang nicht abreißt.

Der 1974 in Eisenstadt geborene, bei den Wiener Sängerknaben und in Oberschützen ausgebildete Tenor Gernot Heinrich mit der umfangreichsten und stimmlich herausforderndsten Rolle des Matrosen Gale wurde für eine bravouröse singdarstellerische Leistung bejubelt. Wie er vom sorglosen Luftikus mit lakonisch-pfiffiger Mimik und Körpersprache in die tragische Ausweglosigkeit driftet: sehens- und hörenswert! Johann Leutgeb ist mit markantem Bariton der polnische Matrose Stanislaw, der in den Freitod geht und sorgt damit für Momente, welche die Kehle zuschnüren. Die anderen männlichen Protagonisten waren in etlichen Rollen und blitzschnellen Kostümwechseln all die Matrosenkumpels, die Polizisten, die Peiniger und Quäler an Land und auf dem „Totenschiff“. Großes Pauschallob für den Counter Bernhard Landauer, für den Tenor Richard Klein, für den Bariton Clemens Kölbl und für den Bass Horst Lamnek.

Und auch eine Allegorie gibt es: Romana Amerling begleitet als „Schicksal“ den überlebenden Matrosen über den letzten Moment des Abends hinaus. Mit verführerischen, betörenden Soprantönen vom Ausguck des Schiffes.

Die 15 Musiker/innen des ensemble sirene unter der souveränen Leitung von Jury Everhartz spielten mit aller Farbigkeit und stilistischer Brillanz.

Der Abend wurde begeistert akklamiert. (Vorstellung: 26.11.2018)

Andere Kritiken