25.11.2018, Die Presse, Wilhelm Sinkovicz (pdf)

Fesselndes Musiktheater auf tristem Schiff

In einer ehemaligen Fabrikshalle in Hernals zeigt das sirene Operntheater Oskar Aichingers Opernversion von B. Travens Roman "Das Totenschiff". Zeitkritik von 1926 nach Kurt-Weill-Manier in die Gegenwart transferiert.

Das muss man „Wien Modern“ lassen: Ästhetische Grenzmarken setzen die Veranstalter des Festivals nicht. Man hat ein weites Herz für die stilistischen Möglichkeiten, heutzutage neue Musik zu komponieren. Ob etwas neu klingt oder nach altbewährten Mustern gestrickt ist, diese Fragen werden bei der Programmerstellung offenbar nicht mehr gestellt. Das ist gut so. Neugierige Musikfreunde kommen auf diese Weise in Berührung mit zeitgenössischen Werken, die sich nicht der klanglichen Abenteuerlust verschrieben haben. Und sie werden auch mit Wiederaufführungen älterer Stücke konfrontiert, die schon zu ihrer Entstehungszeit nicht als fortschrittlich galten.

So erlebte man innerhalb kurzer Frist ein Remake von Gottfried von Einems „Prozess“ im Konzerthaus; und die Uraufführung einer Veroperung von B. Travens Roman „Das Totenschiff“ durch Oskar Aichinger im „Reaktor“. Diese Ruine einer ehemaligen Fabrik in Hernals dient dem sirene Operntheater von Jury Everhartz und Kristine Tornquist (die auch das Libretto verfasst hat) als Kulisse. Die wirkt für sich genommen schon trostlos genug, um die sozialpolitisch engagierte Erzählung vom Seemann, der seine Ausweiskarten verloren hat, mit Arte-Povera-Mitteln in Musiktheater zu verwandeln.

Und zwar in fesselndes Musiktheater. Von einigen leicht entfernbaren, durch allzu großzügige Wiederholungen entstandenen Längen abgesehen, schaut und lauscht das Publikum 100 Minuten lang spürbar konzentriert. Gerade dank der Einfachheit der Bühnensprache, der als Kulisse ein Schiffsmast und ein paar Seile genügen, einige wenige Leinwandfragmente dazu, die in rascher Verwandlung zu Segeln werden können. Projektionen und Lichteffekte suggerieren die Stimmung.

Trostlosigkeit herrscht vom ersten Moment an, in dem der Gernot Heinrich (Gale) bemerkt, dass seine Papiere verschwunden sind: Das Schiff, auf dem er angeheuert hatte, verließ den Hafen, während er an Land seinen Rausch ausschlief. Jetzt beginnt Gales jämmerliche Odyssee von Belgien nach Holland, von Holland nach Frankreich, bis der Illegale in Marseille strandet. Nirgendwo geduldet, bleibt ihm nur, sich als Heizer auf Seelenverkäufern zu verdingen.

Travens Geschichte wird von der Anklage gegen die Zeitumstände zum Pamphlet gegen die menschenverachtenden Machenschaften des Kapitalismus. Die Assoziationen, Jahrzehnte nach der Entstehung des Buches, führen uns von der Flüchtlingskrise mühelos zurück in die jüngere österreichische Zeitgeschichte.

Der Name Lucona liegt in der Luft – und doch enthält sich Tornquists Regie aller billigen Anbiederungen ans allzu Naheliegende. Das Verknüpfen überlässt sie dankenswerterweise den Zuschauern, setzt lieber auf die pausenlose, konsequente Abwicklung der Handlung in plausiblen Bildern. Die Persönlichkeit Gernot Heinrichs, der seinen stimmlichen wie darstellerischen Marathonlauf konzentriert absolviert, sichert dem Abend den nötigen Halt.

Das sirene-Ensemble, angeführt vom prägnanten Countertenor Bernhard Landauer, stellt in wechselnden Duett-, Terzett- und Quartett-Kombinationen die Quälgeister, Peiniger und Kumpane Gales, der unrettbar, weil vollkommen entrechtet, seinem Tod, dem Untergang der „Empress of Madagascar“ zwecks Versicherungsbetrugs entgegenläuft. Oder besser: entgegentanzt, denn Tornquist stilisiert, was an Brutalität auf der Szene nur bemüht und pseudorealistisch wirken würde, nach den Rhythmen von Oskar Aichingers Musik zu tänzerischem Bewegungstheater.

Das schafft auch optisch jene Distanz, die durch Aichingers Songs zum Stilmittel dieser Oper erhoben wird. Formale Rundung garantiert der wiederholte Auftritt Romana Amerlings als sirenenhafte Mädchengestalt, die in Bänkelsängerton von Gales amerikanischer Heimat schwärmt und den Antihelden zuletzt von ihrer allerhöchsten Position im Ausguck des Schiffs als eine verführerische „Tödin“ in ihr Paradies lockt.

Das klingt hie und da ein wenig nach Kurt Weill, wenn auch „Lovely Louisiana“ eher sprachlich als musikalisch an den „Moon of Alabama“ anklingt. Die Partitur ist raffiniert orchestriert. Ein kleines Ensemble lotet, von Jury Everhartz dirigiert, alle farblichen Möglichkeiten des Instrumentariums vom Englischhorn bis zur E-Gitarre aus. An akustischen Stimmungsbildern mangelt es nicht, dank geschickter Tonarten-Dramaturgie bleibt auch die harmonische Spannung aufrecht.

So könnte „Das Totenschiff“ nach dieser gelungenen Erstpräsentation durchaus noch andere experimentelle Theaterhäfen anlaufen. Es scheint nicht a priori zum Versinken im Nirvana der zeitgenössischen Opernproduktion verdammt, sondern wirkt seinem Namen zum Trotz recht lebensfähig.

Andere Kritiken