Opern.News, Walter Weidringer, 22.09.2023

Die mit dem Kaktus spricht. Eine bemerkenswerte Uraufführung: Julia Purgina verzaubert im Wiener Jugendstiltheater mit ihrer Oper «Miameide», in der die Kraft der Pflanzen in stimmungsvoller Vielfalt zu hören ist

Nach ziemlich genau einer Stunde kommt die konkrete Handlung an ihr Ende. Mia, die Protagonistin, hat genug. Sie schlüpft unter dem Schleier durch, der das dahinter spielende Ensemble Phace zu optischen Schemen macht und als Projektionsfläche dient für die Trickfilme in Zeitraffer wachsender, rankender Pflanzen. Mia verabschiedet sich also aus der konventionellen Welt, die im Jugendstiltheater auf der Baumgartner Höhe durch eine jetzt wieder leere Spielfläche repräsentiert ist, hinter der sich im Video Blätter und Halme einer riesenhaften Wiese räkeln. Die unsichtbaren Gesangs- und Instrumentalstimmen steigen in zärtlicher Schwerelosigkeit auf, dünnen immer weiter aus: eine Auf-, ja vielleicht schon eine Erlösungsgeste. Stille.

Es ist dieser wohlgesetzte Moment des Nichts, in dem sich die Kraft von Julia Purginas Musik in besonders schlagender Manier erweist. Denn einen schmerzlichen Augenblick lang fürchtet man, das Stück wäre damit vorbei. Das allein sagt schon viel aus. Doch dann setzt die Trompete neu an, ruft geheimnisvolles Glitzern und Schimmern auf den Plan – und nun löst die Komponistin das ein, was Kristine Tornquist in der im Wald angesiedelten, stummen letzten Szene ihres Librettos als „große Sinfonie der Pflanzen“ bezeichnet hat: Zarte Glocken tönen herein und litaneiartiger Gesang von mystischer Aura; duftige, schwerelose Rhythmen wirken wie Tritte, die kaum den Boden berühren; aus der Tiefe aufsteigende, sich emporrankende Linien, die einander umschlingen, verwachsen, nach zum Licht streben: bewegte Statik, in sich ruhende Erregung, ein Crescendo, das alles erfasst. So mag der Wald tönen, wenn man sich von ihm umfangen lässt wie Mia, in ihm emporschwebt, wie gebettet auf eine Wolke aus Moos, sich im Grün verliert, eins wird mit der Natur. „Durch die Blätter fällt grün das Sonnenlicht auf ihr Gesicht, sie lächelt und verschwindet im Buschwerk.“ Auf die im Laub zurückbleibende Brille, die das Libretto noch erwähnt, hat Tornquist als ihre eigene Regisseurin schon verzichtet. Purgina jedenfalls wagt hier eine Schönheit, die sich nirgend anbiedert und doch verzaubert. Und Phace bringt diese letzten, kurzen, nicht einmal Minuten unter Leitung von Antanina Kalechyts anregend und wahrlich blühend zum Klingen.

Ein schöner Zufall, dass in der Wiener Staatsoper gerade ein eng verwandtes Werk aus früherer Zeit auf dem Spielplan stand, Richard Strauss’ 1938 in Dresden uraufgeführte «Daphne»: Da verwandelt sie die Titelfigur zuletzt in glitzerndem Fis-Dur in einen Lorbeer. Und im Mozartjahr 2006 kam in Wien John Adams’ Märchenoper «A Flowering Tree» heraus, in dem sich ein Mädchen in einen Baum verwandelt, um mit dem Verkauf von dessen Blüten seine arme Familie zu unterstützen.

„Grüne“ oder zumindest grün interpretierbare Opern gibt es also schon länger, aber Tornquist und Purgina greifen mit «Miameide», einer Produktion des sirene Operntheaters, fraglos ein virulentes Thema auf. Der Titel «Miameide», das lernt man alles in Tornquists Anmerkungen, ist gleichbedeutend mit „Mimameidr“ und sogar mit „Yggdrasil“, das gelernten Wagnerianern (m/w/d) geläufig ist, und bezeichnet jenen Baum, der im Mittelpunkt der Welt wächst, seine immergrünen Äste schützend über alle Länder ausbreitet und an seinen drei Wurzeln drei Quellen entspringen lässt, die drei Reiche mit Wasser versorgen. Im Gegensatz zur verbreiteten Fehlübersetzung als Esche („Weltesche“ im «Ring des Nibelungen») sei in den nordischen Sagen eigentlich eine Eibe gemeint.

Aber mythisch ist an Tornquists Handlung zunächst ohnehin wenig. Wir befinden uns im Hier und Jetzt. Weil Mia Pflanzen liebt, will ihr das Arbeitsamt einen entsprechenden Job vermitteln. Doch Mias Beziehung zur Flora geht weiter, sie kann die Sprache der Pflanzen hören und verstehen. Das führt dazu, dass sie sich als ungeeignet erweist für eine herkömmliche Erwerbstätigkeit als nacheinander Blumenverkäuferin, Gärtnereigehilfin und sogar als Reinigungskraft in einem großen Firmengebäude, weil ihr sogar dort noch eine vertrocknete Büropflanze näher und wichtiger ist als bloße Sauberkeit. Der zuerst lange unbeachtet gebliebene Kaktus ihrer schrillen, unverständigen AMS-Sachbearbeiterin raunt ihr zuletzt in sanft stacheligem Staccato einen Rat zu: „Du blasse Wurzellose, fort,/ lass dich vom Wind verblasen,/ und dort wo gute Erde ist,/ schlag deine Wurzeln ein,/ spreng das enge Samenkorn,/ treib aus, entfalte deine Glieder,/ lecke Licht und trinke Tau,/ dufte und verstreue dich./ Sonne, Lüfte, Erde, Grün,/ mehr brauchst du nicht.“ Nicht der schlechteste Teil des Librettos.

Tornquists Stationendrama mag dramaturgisch allzu linear und direkt daherkommen, die Büro- und Bürokratiesatire in den AMS-Szenen ist für Kontraste gut, gerät aber auch klischeehaft. Dafür zeigt sich auch anhand dieses Ausgangsmaterials Purginas Gespür, von Szene zu Szene Stimmungen aufzufassen, sie musikalisch nachzubilden oder überhaupt erst zu schaffen. Gerade in den wortlosen Zwischenspielen bzw. End- und Eröffnungsteilen der Szenen vermeint man, die so oft unterschätzte Kraft der Pflanzen zu hören, deren Keime doch Beton durchdringen und sprengen können. Unmittelbare Verständlichkeit und Originalität der Erfindung befinden sich in der Partitur in ständiger, das Interesse wachhaltender Wechselwirkung: sowohl bei der „natürlichen“ Schlichtheit, die die Kantilenen der Mia bestimmt, die Johanna Krokovay noch dazu berückend schön und mit sanfter Tongebung singt, als auch in den geheimnisvollen Lauten der Pflanzen, die sich nicht zuletzt im unsichtbar agierenden Vokalensemble Momentum Vocal Music abbilden, und schließlich noch in den sinnlich gemischten Instrumentalfarben und -linien.

Dazu Romana Amerling, Benjamin Boresch, Vladimir Cabak, Ingrid Haselberger und Johann Leutgeb als Ensemble in Episodenrollen, die ihre dazugehörigen Bühnenbildelemente meist selbst herein- und wieder hinausrollen – und die Videos von Julia Libiseller und Germano Milite, in denen man Pflanzen beim Wachsen zusehen kann und bei ihren durch Wetter und Licht hervorgerufenen Tänzen. Ein kurzer Abend.

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