Drinnen und Draussen

O Leben, Leben: Draussensein.
Rainer Maria Rilke

Im Krankenhaus geht es um Leben und Tod, in der Oper geht es um Leben und Tod. Soweit so gemeinsam, außerhalb dieser Feststellung gibt es kaum Berührungspunkte. Opern erzählen aus Fischerhütten und aus Palästen, spielen in Schumacherwerkstätten oder im Bordell, doch nicht an diesem Ort, an dem nahezu jeder wichtige, eindrückliche und manchmal entscheidende Momente erlebt. Anders als die Oper, wo bis auf Ausnahmen wie Georg Friedrich Haas' ungefähr gleichzeitig zur Trilogie Hospital entstandene Opern Thomas (2013) und Koma (2016), das Krankenhaus bis heute nicht wirklich vorkam, hat das Fernsehen als narratives Medium das dramatische Potenzial des Krankenhauses schon länger für sich entdeckt. Arzt- oder Krankenhausserien sind, genau wie Krimis, im Fernsehen allgegenwärtig, ob als Bergdoktor oder Dr. House, in der Schwarzwaldklinik oder im Emergency Room. Der Kriminalfall und das Krankenhaus bilden Räume, die das Erzählen der Realität auch jenseits des Trivialen und des Klischees in verdichteter Weise ermöglichen, darin liegen sie nah beieinander. Ihr Potenzial für die Oper haben Kristine Tornquist und Jury Everhartz bereits 2002 in ihrer Kriminaloper Der Kommissar aufgespürt.

Die Librettistin Kristine Tornquist und die Komponisten Christof Dienz, Hannes Löschel und Šimon Voseček stellen in ihrer Operntrilogie Hospital drei paradigmatische Situationen vor, die das Spannungsfeld der täglichen Konflikte und Extremsituationen in der Welt der Medizin veranschaulichen. Sie stellen ethische Fragen, die sich im täglichen Umgang mit den Grenzbereichen des Lebens unvermeidlich aufwerfen. Wie ist der Mensch beschaffen, ein Ganzes oder eine Summe seiner Teile? Was macht es mit mir, wenn ich ein Organ eines anderen erhalte, bin ich dann ich? Wem wurde es genommen? Wann endet das Leben, wann beginnt es? Wie sterben wir? Wem helfe ich zuerst? Es sind Fragen, die oft vermieden werden. Menschen, die sich damit plötzlich und in der Regel unvorbereitet konfrontiert sehen, treffen sie mit großer Wucht. Für jene, die damit regelmäßig zu tun haben, sind sie, im Gegenteil, Alltag und Arbeit. Dieser Gegensatz zeitigt zwangsläufig Missverständnisse, ergibt sprachliche Ohnmacht und fehlgeleitete Kommunikation, die in der Oper Soma kulminiert, wenn der Chor der Patienten und das medizinische Personal mit einer dadaistisch anmutenden Fachwörter-Suada aufeinanderprallen.

Das Krankenhaus ist ein Schwellenland, in dem die agierenden Personen losgelöst vom Alltäglichen auf ihre nackte Existenz zurück geworfen sind. Es verläuft eine unsichtbare Grenze zwischen dem professionellen Personal, Ärztinnen, Psychologen, Pflegern auf der einen und den Patienten und ihren Angehörigen auf der anderen Seite. In einem unheimlichen Raum, in dem niemand wirklich heimisch ist und den jeder lieber schnell wieder verlassen möchte, wächst die Distanz, die zu gegenseitigen Verdächtigungen und Unterstellungen führt: „ich dachte beim Anblick des Professors, ging er nun in den Operationssaal hinein, oder kam er aus diesem heraus, geht nun ein Genie hinein oder ein Mörder, kommt ein Mörder heraus oder ein Genie“, so ein Patient über die chirurgische Koryphäe bei Thomas Bernhard (Wittgensteins Neffe).

Der Zwischenbereich zwischen Leben und Tod ist in allen drei Opern, Soma, Hybris und Nemesis das Spielfeld. Kristine Tornquist und der Bühnenbildner Jakob Scheid verlegen die Szenerie in einen opaken Urwald, eine Analogie für die verschlungenen Emotionen, Ängste und seelischen Abgründe der Figuren. So wie der Raum kein realistisches Bild einer Klinik zeichnet, so werden auch die Problemfelder der Medizin, um die es hier geht, wie der Umgang mit Organtransplantation, Menschen im Koma und die tägliche Bewältigung von Notfällen in Ambulanzen, mit dem Stilmittel der Übertreibung erzählt. Darüber hinaus ist im Wald der Märchen auch der Tannewetzel beheimatet, wie ihn Thomas Mann in Der Erwählte nannte, der mythische Freund Hein des Matthias Claudius, der Schnitter Tod. Als Pfleger Heini ist er im Hospital ein unheimliches Faktotum und verrichtet, unbeachtet von den meisten, leise seine Arbeit. Nur die verbündete Gegenspielerin, die Pflegerin Sanjivani (sanskrit. das Leben), erfasst seine wahre Gestalt und nennt ihn gegenüber dem angsterfüllten Patienten Soma „sanft und gut“, wie Claudius in dem von Schubert vertonten Gedicht Der Tod und das Mädchen. Die rätselhafte, von Sympathie getragene Figur der Sanjivani, ist sie die titelgebende Nemesis, die Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit, die die Hybris bestraft oder auch nur ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft?

Es ist charakteristisch für Kristine Tornquists Figurenkonzeption, dass die in der Krankenhaushierarchie zuunterst stehende Person des Hilfspflegers in Wahrheit die entscheidende Gestalt ist, die alle unsichtbaren Fäden in der Hand hält.

Ärzte sind in Tornquists Libretto keine Mörder, auch eher keine Genies. Allen voran der Primarius Prof. Jessing aus Hybris und Nemesis. Er verkörpert den Wissenschaftler alten, paternalistischen Stils, der Moral und Selbstachtung hochhält und versucht, „die Utopie zu bewahren, dass zwischen Honorar und Hingabe kein Zusammenhang besteht“. Jessing bezieht sich immer wieder auf den Mythos des Sisyphos, den Tornquist bereits in ihrem gleichnamigen Musiktheaterstück (Sisifos) für die Universität Wien 2015 als Parabel auf die Wissenschaften verwendet hat. Wichtiger als die bekannte Strafe der Götter, die Sisyphos einen Felsbrocken immer wieder einen Berg hinauf wälzen lässt, ist hier allerdings seine ursächliche Schuld: er hatte versucht, den Tod zu überlisten, mit Schläue Thanatos zu überwinden und den Zustrom des Hades zu sperren.

Im dritten Teil der Trilogie, Soma, tritt Jessing nicht mehr auf, er ist in Pension gegangen. Nun zeigt sich die Problematik einer Generation, die zum wissenschaftlichen Erfolg gedrängt, ihre Empathie von sich abgeschüttelt hat: die ehrgeizige Ärztin Bandura – unschwer als Pandora zu identifizieren, wie überhaupt die meisten Figuren sprechende Namen haben – wird in einer paradoxen Konstellation zum Opfer ihres eigenen Forschungsgebiets. Ebenfalls mit Pandora in Verbindung gebracht wird der Oberarzt Dr. Kross aus Hybris, der sich für eine Entscheidung zur Operation weniger von medizinischen Gründen als von finanziellen leiten lässt: „Wer einmal Pandoras Geldbörse öffnet wird diese nicht mehr los.“, weiß Prof. Jessing. Die Büchse der Pandora deutet er ironischerweise zur Geldbörse um. Im Mythos schafft Hephaistos auf Geheiß des Göttervaters Zeus Pandora aus Lehm, um Rache für den Diebstahl des Feuers durch Prometheus zu nehmen. Pandora erhält zu diesem Zweck eine Büchse, die alle Übel der Welt sowie die Hoffnung enthält. Ein zynisches Bild für den Sieg des Geldes und den schnellen Wandel von Fortunas Glücksrad ist die Wette, die das Personal über den Verlauf der Genesung der Patienten und über ihre Hoffnung auf Genesung abschließt.

Und die die Erduldenden, die Patienten? Mit geschärften Sinnen sind sie empfindlich für die im Krankenhausalltag normal gewordenen Zumutungen und beobachten argwöhnisch. Gemeinsam ist allen, die am Leben hängen, dass sie so schnell wie möglich wieder nach Draußen wollen. Das zwillingshafte Paar der beiden Leberpatienten, Spender und Empfänger, Soma und Amos in Hybris ist doppelt auseinander angewiesen, mit Geld und Leben. Der unschuldig mit der prometheischen Strafe verurteilte Theo Prommer wird nicht als lebendes Menetekel erkannt und als Simulant, mit Placebo versorgt, nach Hause geschickt, was ihn sofort von seinem albtraumhaften Leiden befreit. Der Komapatient in Nemesis sein Name ist El Azar, ein Anagramm von Lazarus –, der hingegen nicht ins Leben zurück möchte, verstört alle. Das gesamte Team befindet:

Der ist kein Patient. In seiner dunklen Nähe wollen wir auch nicht (sein). Alles hat seine Grenzen.

An vielen Stellen in diesem Libretto schimmern durch den oberflächlichen Sachverhalt einer fiktionalen Realität die mythologischen Hintergründe der Figuren. Die Hinweise sind zahlreich, manchmal so offensichtlich, dass es schon wieder verdächtig ist (wie bei Prometheus / Theo Prommer), manchmal eher im Verborgenen. Diese mythologischen Spuren erschließen sich allerdings nicht der an der faktischen Oberfläche orientierten Interpretation sondern eher einer subversiven Lesart, die sich auf die vielschichtige Konstruktion der Trilogie Hospital einlässt und einer poetischen Technik Rechnung trägt, die nicht weniger beansprucht, als die Tiefenbedeutung der Geschichte widerzuspiegeln und zu reproduzieren.

Isabelle Gustorff