Der Standard, 23.11.2022, Miriam Damev (pdf)

Schuss ins Knie: Die Entzauberung des George Crumb bei Wien Modern
Der Klavierzyklus "Makrokosmos" wird im Jugendstiltheater am Steinhof unter anderem mit Astronauten bebildert.

In der letzten Woche von Wien Modern hat man die seltene Gelegenheit, die Gesamtaufführung von George Crumbs vierteiligem Klavierzyklus Makrokosmos zu erleben. Ort des Geschehens ist das Jugendstiltheater am Steinhof: Das Juwel von Otto Wagner stand jahrzehntelang leer und wird erst seit kurzem wieder benützt.

Zwischen 1972 und 1979 arbeitete George Crumb an dem Kompendium. Der Name ist eine Referenz auf den Klavierzyklus Mikrokosmos von Béla Bartók, einem von Crumbs Lieblingskomponisten. Die Teile I und II für Soloklavier stehen für die zwölf Tierkreiszeichen. Teil III für zwei verstärkte Klaviere und Schlagzeug heißt Celestial Mechanics und ist eine Hommage an die Dichter Rilke, Pascal und Quasimodo; Teil IV besteht aus einer Suite kosmischer vierhändiger Tänze, die nach Sternen benannt sind.

Crumbs Art, mit dem Instrument umzugehen, war revolutionär: Er öffnete den Korpus, ließ den Interpreten die Saiten mit Papier und anderen Objekten präparieren, an ihnen zupfen oder schlagen, dazu singen und pfeifen. Das verstärkte Crumb elektronisch, um die unterschiedlichen Klangschichten hörbar zu machen.

Den Pianisten Alfredo Ovalles und Martyna Zakrzewska gelang eine so beeindruckende wie berührende Erforschung von Crumbs Klanglandschaften. Seine Musik ist Kopfkino pur: Sie entführt in Galaxien und Schwarze Löcher, ächzt und grollt, flüstert und schreit.

Weil das Erhören dieser magisch-mystischen Partituren scheinbar nicht für sich steht, hat das sirene Operntheater den Zyklus um performative Elemente erweitert. Das sorgt für unfreiwillig komische Momente, wenn zwei Astronauten während des Spiels in Zeitlupe über die Bühne wackeln oder ein wehender schwarzer Vorhang Crumbs komplexe Musik illustrieren soll.

Es reicht auch nicht, einen Spiegel über dem Klavier schweben zu lassen. Die Eingriffe der Pianistin im Inneren des Instruments sind von irritierenden Projektionen begleitet. Spätestens bei der skurrilen Wer-hat-mehr-Löffel-im-Mund-Performance in Teil III ist Crumbs Musik endgültig entzaubert.

Wobei sich der Klang von zwei elektronisch verstärkten Bösendorfer Grand Pianos und zwei Multipercussionisten in dem winzigen Raum, wohin die Aufführung verlegt wurde, ohnehin nicht entfalten kann. Dafür ist es ohrenbetäubend laut. Crumbs epischem Werk hat Wien Modern keinen Gefallen getan. Man ist erleichtert, wenn der Performance-Spuk endlich vorbei ist.

Kommentare im Standard zu diesem Artikel

Makrokosmos III hat den Titel “Music for a Summer Evening”, Celestial Mechanics ist Teil IV. Für eine Kritik ist so ein Fehler einfach nur unprofessionell und peinlich. Die Veranstaltung war in musikalischer Hinsicht kompositorisch und interpretatorisch ein Höhepunkt wie selten zu hören. Über die Inszenierung mag man geteilter Meinung sein; sirene verdient jedenfalls Respekt dafür, das Werk eines wirklich originellen und authentischen Komponisten erstmals seit den 90ern in Wien wieder prominent zu präsentieren. Dass er dafür erst sterben musste, passt allzu sehr ins Klischee dieser Stadt, die sich für die Welt hält.
01.12.2022, Poor Yorick

Ich zögerte ob der Kritik und ging dann doch, zum Glück! Ein gelungener, musikalisch wirklich beglückender Abend. Die Zeit verging im Flug. Die Performance der beiden war hinreißend. Der Klang der Klaviere in beiden Räumen hervorragend. Zu laut fand ich es nie - also, auch Beethoven hat laute Stellen, und ich mag das. Die Performance mit den dadistischen goldenen Antennen fand ich skurrile SciFi Zitate, gut balancierter Kontrapunkt zur Musik (inklusive Blockflöte - grandios). Die Astronauten waren eine gute Lösung, um das Publikum mittels traschigen Klaumauk in Bewegung zu setzen. Lachen bei neuer Musik erlebe ich oft als erfrischend. Den Wechsel zum kleinen Raum fand ich fein. Danke allen Mitwirkenden und Wien Modern für diesen rundum tollen Abend!
28.11.2022, Ziviles Denken

Ich fand es einen rundum gelungenen Abend, und finde die Kritikpunkte sehr nörgelig. Astronauten und Löffelperformance waren für mich einfach witzige Referenzen auf die Sci-Fi Ästhetik der Siebziger, in der die Stücke entstanden sind - eine Auflockerung, die es zwar nicht unbedingt gebraucht hätte, die aber auch nicht von der Musik ablenkte. Die Performance im kleinen Raum hat für mich gerade wegen der Lautstärke an Intensität gewonnen - gut, ich bin aber auch schon mit Raves aufgewachsen und das andererseits vor der EU-Lautstärkeverordnung... und die Leistung der Musiker war sowieso hervorragend, da stimme ich der Besprechung zu. Und Versuche, das Avantgarde-Hochkultur-Ghetto etwas zu öffnen, finde ich prinzipiell gut.
27.11.2022, Toporosso

Mit Hingabe gespielt! Ein Marathon vor allem für die Pianist:innen, die Teil III (immerhin 40') ohne Pause gleich zweimal hintereinander spielen müssen. Also ich hatte danach keinen Nerv mehr, um noch auf den vierten Teil zu warten, zumal die über weite Strecken ziemlich langweilige Musik mit echter Hingabe gespielt worden ist und mir die Ausführenden leid taten. Von der Performance hätte ich mehr erwartet, die im Artikel als „irritierend“ beschriebenen Projektionen fand ich noch am Besten. „Crumbs Art, mit dem Instrument umzugehen, war revolutionär“. Nein, Frau Damev, das war sie nicht.
25.11.2022, enharmonische verwechslung

ANTWORT DARAUF: Ich denke, das war sie doch. Es geht ja nicht nur darum, wer irgendeinen Klang oder Effekt als Erster verwendet. Die Art, wie Crumb diese Klänge in seine Klavierwerke integriert war damals einzigartig. Die Qualität, die er damit erreichte ist auch heute ausgesprochen selten.
30.11.2022, Poor Yorick

Zitat: ".....Wobei sich der Klang von zwei elektronisch verstärkten Bösendorfer Grand Pianos und zwei Multipercuss-ionisten in dem winzigen Raum, wohin die Aufführung verlegt wurde, ohnehin nicht entfalten kann. ....." Es steht zwar in der Partitur, das verstärkt werden soll, wird in diesem Fall aber - aufgrund der Größe des Raumes - nicht gemacht. Ich habe mich das selber gefragt und mich darüber beim Veranstalter erkundigt. Dass das akustisch opulenteste Werk im kleinsten Raum zur Aufführung kommt, ist natürlich ein wenig schade.
24.11.2022, Stefan Meyer

ANTWORT DARAUF: Mag das daran liegen, dass dem Szenischen zu viel Gewicht eingeräumt wurde? Das hätte sich wohl in einer passenden Halle verlaufen bzw wäre eventuell ignoriert worden.
24.11.2022, p-hammer

ist die geschichte des intensiv präparierten klaviers nicht viel älter? z.b. die komponisten john cage und sein lehrer henry cowell, oder auch in der improvisierten musik seit den 60er jahren der ganze performance und fluxus zauber. muss mal in george crumb reinhören, zahlt sich das aus?
23.11.2022, kinetto

ANTWORT DARAUF: Ja, zahlt sich voll aus!
24.11.2022, Stefan Meyer

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