Online Merker, 23.11.2022, Manfred A. Schmid

George Crumbs wohlpräpariertes Klavier, elektronisch erweitert und verstärkt

WIEN / Jugendstiltheater: MAKROKOSMOS I – IV von George Crumb. An siebenundzwanzig Aufführungsorten, die als musikalische Energiezentren über ganz Wien verteilt sind und wie Chakren oder Akupunkturspots das Kulturleben der Stadt auffrischen, findet heuer das Festival Wien Modern statt. Der Kooperationspartner sirene Operntheater präsentiert – nach der ausverkauften Kabbala-Produktion im Planetarium – im zweiten Schritt George Crumbs in den siebziger Jahren entstandene Zyklus Makrokosmos I-IV im Jugendstiltheater am Steinhof. Beide Werke verbindet eine das Weltall und seine räumliche wie zeitliche Ausdehnung auslotende Herangehensweise, die aber den Menschen in seinem kosmischen Umfeld nie aus den Augen verliert.

Das vierteilige Werk des heuer 92jährig verstorbenen Komponisten und Pulitzer-Preisträgers Crumb fordert von den Pianistinnen und Pianisten künstlerischen wie auch physischen Totaleinsatz. Sie müssen nicht nur hochkonzentriert ihrem Tastenhandwerk und Pedalfußwerk nachgehen, sondern zudem auch singen, schreien, pfeifen und sich immer wieder erheben, um den offenen Flügel mit klangändernden Gegenständen zu präparieren, hineingreifen, um über die Saiten zu streichen oder sie abzuklopfen. Jeder der vier Teile besteht aus zwölf aneinander gereihten, kurzen Klavierstücken, die neben technischer Wendigkeit auch großes gestalterisches Können voraussetzen. Crumbs Musik ist nicht atonal, vielmehr hat er einen eigenen Stil entwickelt, der sich in seiner schöpferischen Freiheit von keinem verpflichtenden System einschränken lässt. Sein musikalischer Kosmos ist voll von magischen Klängen, erweiterten instrumentaltechnischen Experimenten und einer sehr eigenwilligen musikalischer Notation. Bezüge zu großen Meistern der Vergangenheit, allen voran Chopin und Mahler, aber auch Bartók, sind unverkennbar.

Den Beginn macht der aus Venezuela stammende Alfredo Ovalles. Hochkonzentriert widmet sich Ovalles den von Zahlenmystik und symbolischen Figuren geprägten zwölf Sternzeichen, die von Crumb musikalisch evoziert werden. Schon die ersten Takte von „Makrokosmos I – Zwölf Fantasiestücke über den Tierkreis für elektronisch verstärktes Klavier“, die wie dunkel grollende Klänge aus dem Bauch der Erde kommen, holt er kraftvoll an die Oberfläche. Ein erster Höhepunkt wird im Stück „Crucifixus“ erreicht, das dem Sternzeichen Steinbock gewidmet und von Crumb graphisch in Form eines Kreuzes notiert wurde. „Criste“, der Ausruf des Pianisten, leitet über in plötzliche Stille, was wohl auf das Verebben des Lebens hindeuten soll. Die „Schattenmusik für Äolsharfe“ (Music of Shadows) beginnt mit zarten, transzendenten Tönen, während das dem Widder gewidmete „Frühlingsfeuer“ (Spring Fire) von klaviertechnischen Raffinessen, wirbelnden Läufen und mit den Arm und Ellbogen Clustern nur so sprüht. Ovalles meistert diese Passagen souverän und zeigt in den „Traumbildern“ (Dream Images) des Sternzeichens Zwillinge, wie elegisch Crumb sein kann. Anklänge an WagnersLiebestod“ sind da nicht von der Hand zu weisen, sondern ebenso bewusst eingesetzt wie die ausführlichen Zitate aus ChopinsFantasie-Impromptu“.

Wie sehr Stille ein wesentliches Element im Schaffen von George Crumb ausmacht, wird von der polnischen Martyna Zakrzewska in „Makrokosmos II – 12 Fantasiestücke über den Tierkreis für elektronisch verstärktes Klavier“ herausgearbeitet. Beeindruckend auch der über dem Flügel schwebende Spiegel in Form eines Klavierdeckels, der zur Projektionsfläche des elektronisch angereicherten Geschehens im Inneren des Flügels wird. Die „Morgenmusik“ (Morning Music), mit der er beginnt, ist dem Krebs gewidmet und schlägt unbeschwerte Töne an. Grüblerisch geht es im darauffolgenden Schütze-Stück „Der geheimnisvolle Akkord“ zu, während in den „Regentod-Variationen“ (Death Variations) der Fisch seine Quicklebendigkeit vorführt, was von Zakrzewska bravourös gemeistert wird. Das Sternzeichen Zwilling, von Crumb in Form von „Zwillingssonnengrafisch zu Papier gebracht, ist von einer geheimnisvollen Aura umgeben.

Rhythmisch ruckartig zeigt sich das dem Stier zugedachte Stück „Wasserspeier“(Gargoyles). In der „Cadenza Apolíttica“ für den Skorpion gibt Zakrzewska Gelegenheit, ihre brillante Technik auszupacken. Atemberaubend rasches Überkreuzen der Hände, rapide Läufe über die Klaviatur und Hämmern auf die Tasten ist gefordert. Ein Höhepunkt ihrer Performance. Gespenstisch wird es dann beim Sternzeichen Widder. Das Dies-irae-Motiv kündigt „Eine Prophezeiung des Nostradamus“ an. Wird da musikalisch der Weltuntergang angekündigt? Alles klingt danach. Entwarnung bringt erst das abschließende, transparente, ruhevolle und unkompliziert klare „Agnus Dei“ im Zeichen des Steinsbocks.

Die im Programm angekündigte Pause entfällt, vermutlich aus Zeitgründen, und das Publikum wird von zwei in Raumfahreranzügen gekleideten Personen in einen anderen Saal umgeleitet, wo „Makrokosmos III – Musik für einen Sommerabend für zwei elektronisch verstärkte Klaviere und Schlagzeug (zwei Spieler)“ und „Makrokosmos IV – Himmelsmechanik. Kosmische Tänze für elektronisch verstärktes Klavier zu vier Händen“ zur Aufführung kommen. Die Interaktionen der beiden Tasteninstrumente miteinander und mit den beiden Schlagwerkern, Igor Gross und Emanuel Lipus, die auch auf Flöten blasen und sich ebenfalls stimmlich einbringen, führen zu abwechslungsreichen musikalischen Konstellationen und einem Auf und Ab an dramatischen Zuspitzungen. Wunderbar der unendlich ruhevolle Dialog der beiden Klaviere (Alfredo Ovalles und Martyna Zakrzewska) im abschließenden „Delta Orionis“, eine an Bach erinnernde, seelenvolle Invention zu vier Händen.

Starker Applaus für einen außergewöhnlichen Konzertabend, der durch szenische Performances und Installationen – u.a. Abwickeln einer Spule als Symbol der ablaufenden Zeitpantomimisch dargebotene „Mundstücke“ – bereichert wurde.

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