Operndramaturgie? Reden wir von den Göttern

Um der Welt, einer unüberschaubaren Kaskade von Metamorphosen, als Schöpfer gegenübertreten zu können, erschafft unser Gott, das Gehirn eine Dramaturgie, in dem diese Metamorphosenkaskaden ihr Ende und ihren Sinn finden. Das Gehirn betrachtet sich als unberührte Konstante, als ein Gott, während sich das Beobachtete rundum verändert. Das ist im Alltag natürlich ein unhaltbarer Standpunkt, der Beobachter verändert sich mit dem Beobachten. Doch da das Gehirn in der Kunst Gott ist, nimmt es einen anderen Standpunkt ein, hebt sich als Beobachter aus der Gesamtheit heraus und simuliert einen sogenannten objektiven Blickwinkel.

Einzige Chance, sich darin zu befriedigen, hat das Gehirn (nicht ich!) darin, stehenzubleiben und beim Beobachten der endosen Kette an Metamorphosen und Bewegungen innezuhalten und zwei Punkte willkürlich zum Ziel- und Endzustand zu erklären. Den ersten Punkt zu wählen hat die innere Logik, dass es der erste Punkt ist, bei dem das verfolgte Problem auftritt, bzw an dem das Bewusstsein eintritt in die Kette. Schwieriger ist es, den zweiten Punkt zu definieren: der Punkt, an dem ein Gefühl der Vollständigkeit erlangt ist, ein Gefühle des Überdrusses, ein Gefühl des Desinteresses... Doch bei aller Willkür sind diese Schnitte, die ein ordnender Geist setzt, ein Nachspielen der eigenen Beschnittenheit: die Geschichte, die Narration ist ein Abbild des Gehirns und seiner Selbstwahrnehmung, ein Abbild des Menschenlebens, ein Nachspielen erkannter und gefühlter Struktur der eigenen Lebens-Grammatik. - Das bestimmt das Ausdenken klassischer Geschichten und Zusammenhänge immer - die Konstruktion eines Anfangs und eines Endes. (und sei es der Eintritt in ein Loop und der Austritt daraus nach einer Runde). Es gibt in der Natur vermutlich weder Anfang noch Ende - und doch muss es diese Grenzen geben, weil wir - Teil dieser Natur - sie immerfort suchen.

War das Auflösen narrativer Konventionen eines der Hauptinteressen der Kunst im 20. Jahrhundert - abstrakte Malerei, konkrete Poesie, undramatische Theaterliteratur, serielle Musik, experimentelle Romanstrukturen, der Experimentalfilm, das abstrakte Musiktheater etc. -, so lässt sich an vielen Anzeichen erkennen, dass sich die Kunst des 21. Jahrhunderts der narrativen Form, der Geschichte unter neuen Vorzeichen wieder zuwenden wird.

Das Gehirn schneidet aus der unaufhörlich vor sich hin metamorphierenden Reihen Sinnzusammenhänge aus, in denen es sich spiegelt. Der Lebenslauf einer Geschichte ist mit dem Lebenslauf des Gehirns, des Menschen in seinen Entwicklungsstadien vergleichbar: durch vorgegebene Entwicklungsstufen und -krisen auf ein Ziel hin: entweder die Katastrophe (der Tod) oder die Befriedung (die imaginierte Unsterblichkeit, in der zum Beispiel alle Märchen enden).

Wenn das Bild die effizienteste Darstellung einer Situation ist, die Musik und das Gedicht die deutlichste Darstellung einer Emotion, die Formel die knappeste Beschreibung eines logischen Zusammenhanges, so bietet die Geschichte die eindringlichste und komprimierteste Form, mehrsträngige, komplexe Abläufe darzustellen.

Die Geschichte in ihrer klassischen Form, wie Vladimir Propp sie erstmals seziert und beschreiben hat, ist systemisch so pefekt an die Funktionsweise unseres Gedächtnisses angepasst, dass sie ideal referierbar bleibt, sie nützt die vorhandenen Strukturen des Denkens - die Wiederholung, die Spiegelung, die Gegensatzpaarbildung, die Organisation in Krise und Lösung etc.

Der Lebenslauf einer Geschichte ist mit dem Lebenslauf des Gehirns, des Menschen in seinen Entwicklungsstadien vergleichbar: durch vorgegebene Entwicklungsstufen und -krisen auf ein Ziel hin: entweder die Katastrophe (der Tod) oder die Befriedung (die imaginierte Unsterblichkeit, in der zum Beispiel alle Märchen enden). Die Geschichte ist selbst wie ein Lebewesen.

Und Oper?
Im Gegensatz zum Musiktheater erzählt Oper Geschichten.

Kristine Tornquist