Das Zeitalter des Kleinkindes?

Im allgemeinene interessiert sich das (Sprech-)Theater vor allem für die Eskalation des Individuums. Das ist verständlich vor der aktuellen Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft, in der die Kluft zwischen den Ansprüchen auf Selbstbestimmung, Glück und Freiheit und den realen Möglichkeiten dazu grösser ist denn je zuvor. Vor allem, weil die Ansprüche in der Leistungsgesellschaft hochgetrieben worden sind und immer weiter steigen. So muss auch der Ausbruch aus diesem Druck das erregendste Thema sein. Flucht, Gewalt, Amok, Angstblüte, Selbstzerstörung.

Unspektakulärer, aber nicht weniger spannend ist der Gegenentwurf, also der Blick von aussen auf dieses enge Gefüge, wie es im Normalfall schlecht und recht doch funktioniert. Denn die Eskalation ist nicht der Normalfall, sondern der beängstigende, befreiende, gefährliche, erotische Ausnahmefall - der Normalfall aber ist die unsichtbare Leistung, mit dem unerfüllten, unerfüllbaren Wunsch zu leben.

Genau hier fällt die Entscheidung, von welcher Seite man dem Publikum begegnet. Zeigt man ihm seinen Wunsch: also den freilaufenden Fluss des Willes, des Ego, der Lust, die Eskalation, und führt es in ein katharsisches Ersatzerlebnis?

Ich erinnere mich an einen Mann, der im Publikum vor mir sass und im Moment einer eigentlich recht stilisiert dargestellten Kindstötung auf der Bühne wie besessen seine Hände zu Fäusten ballte. Ein Moment, der mich als Regisseur sehr frustrierte. Denn wie die meisten Kriegsfilme einer zweifelhaften Lust am Krieg nachgeben, so scheint mir auch das Theater der Eskalation die Spannung der Wünsche und Alpträume zu erhöhen (falls man dem Theater überhaupt eine Wirkung zugestehen will wie dem Kino). Ein Boogie auf dem Gefühlsklavier der Aggression gehört jedenfalls zu den leichtesten Etüden des Regisseurs.

Spannender als die Eskalation eines einzelnen ist die Tragfähigkeit und die Selbstregeneration des Gesellschaftsnetzes, wo bewusst wird, dass es reissen kann, oder dort, wo es zerrissen ist. Denn es gibt ebenso viel Interesse daran, es nicht reissen zu lassen wie es zu zerreissen. Während an den Stellen der Eskalation die Spannung entladen ist und verschwindet, sind diese haltenden Verbindungen Träger grosser Spannungen.

Natürlich hält so ein Gewebe von Motiven und durch ihre Motive verbundene Figuren, das eine Gesellschaft darstellt, nur, wenn jeder Faden ein roter ist, und durchgehend weiterläuft, seine Richtung und genügend Spannkraft hat - und doch ist der Umgang mit der einzelnen Figur regietechnisch ein ganz anderer. Denn dann muss von Anfang an eine Linie festgelegt sein, dann ist also ein Charakter etwas Definitives und die Existenz etwas Schicksalhaftes und eine Figur mehr ein Prinzip als ein Charakter. Die einfach motivierten Figuren sind dann als Bausteine eines komplexen und vielschichtigen Innenlebens, das eine grosse, langsame Bewegung macht, zu sehen  - als das Pro und Contra, als Facetten einer Gesamt-Figur, regelmässig wie Atem, Herzschlag und Schritt des Gesamten.

Die Oper - das Meer im Schiff

Die Oper ist der ideale Ort für diesen Ansatz, denn wenn sie gut komponiert ist, fasst die Musik bereits die einzelnen Figuren, die einzelnen Richtungen und Motive in eine gemeinsame einigende Sprache. Auch einander zuwiderlaufende Kräfte unterliegen in der Oper durch die Musik demselben Prinzip, derselben Logik, demselben Energeniveau und hängen in der unabhängig von Plot, Figuren und Regie laufenden Gemeinschaft.

Als Opernregisseur habe ich es immer genossen, statt mit der Faust auf den Tisch zu schlagen mich in das System des Ganzen einzudenken und einzufühlen und meine Schleichwege zwischen den ungezählten Notwendigkeiten zu finden: Geduld statt Eskalation, Weben eines gemeinsamen, tragfähigen Netzes statt eines persönlichen künstlerischen Amoklaufes.

Ertrinken oder Verdursten? | Kristine Tornquist