Opernszene 2021 - Ein Interview mit dem Standard

Ljubiša Tošic hat Kristine Tornquist und Jury Everhartz am 23. Februar 2021 für den Standard interviewt.

1. Was sagen Sie zum Vorwurf der Jury bezüglich "niedrige Standards und eine besorgniserregende Tendenz zur Stagnation", der Sie ja nicht trifft.

Kristine Tornquist: Eine leidenschaftliche, aber unglückliche Formulierung. Schöner wäre gewesen, die Qualität der geförderten Gruppen und Bereiche zu loben.

Jury Everhartz: Es ist immer gut, wenn sich jemand Sorgen macht, aus einigem Abstand heraus zu reflektieren versucht und damit neue Impulse gibt. Diesen Abstand haben wir nicht, aus der Nähe betrachtet arbeiten die Kollegen fleissig und mit Idealismus. In Wien hat es lange Zeit keine Veränderungen in der Musiktheaterszene gegeben, was ich wohl nicht ganz unberechtigt auch als politische Zustimmung zu einer bis zu 30 Jahre umfassenden kontinuierlichen Arbeit sehen möchte. Vielleicht waren die Verhältnismässigkeiten nicht immer ganz richtig, aber dank dieser langfristigen Unterstützung konnten sich Strukturen entwickeln, die sehr leistungsfähig sind. Dass nach einer so langen Zeit sich auch Gewohnheiten etablieren ist ebenfalls selbstverständlich. Nicht vergessen, dass in dieser Stadt viele Künstler leben, die damit jetzt auch Arbeitsmöglichkeiten verlieren. Aus meiner Perspektive haben sich jedenfalls alle um hohe Standards bemüht, und ob man wirklich immer schauen muss, was gerade in Berlin, Hamburg oder Zürich passiert, kann ich nicht beantworten.

2. Wie sieht man die Innovationsmöglichkeiten im Musiktheater und für freie Gruppen?

KT: Innovation ist nur ein Kriterium für Kunst. Qualität ist ein anderes. Ein drittes ist Inhalt. Für die freie Szene halten wir ein ausgewogenes Verhältnis dieser drei Ziele für ideal. Aber manchmal fragen wir uns schon: verlangt man von Filmen oder Romanen so viel Innovation wie von Musiktheater?

JE: Ich glaube auch, dass es wichtig ist, zuerst inhaltlich zu denken. Wovon spricht man und was für eine Geschichte erzählt man? Wir jedenfalls wollen das zuerst im Auge behalten und keinen Circus und keine Freakshow machen. Es reicht, wenn man sich konzentriert und fokussiert, dann wird ohnehin alles interessant. Es ist ganz wichtig, dass aus dem Betrieb kein Geschäftsmodell wird, wenn das der Fall ist, hätte man sofort Innovationsbedarf. Ansonsten ist Innovation doch die Regel, vielleicht umgekehrt proportional zu struktureller Abhängigkeit.

3. Wie stellt sich die Lage der freien Operngruppen in Wien dar?

KT: Die Krux ist, dass unsere meist gross besetzten Formate einerseits schwerer auf die Reise in den internationalen Ruhm zu schicken sind als es für die schlankeren Tanztheater möglich ist. Und dass es ausserdem an Festivals, Gastspielhäusern und -strukturen mangelt. Insofern kann man die Internationalität von Performance und Opernproduktion schwer vergleichen. Wir schaffen immerhin auch Partituren, die theatrale Seite der Aufführung wurde vorrangig bewertet, ist aber nicht alles, was wir als unsere Arbeit sehen. Eine Oper besteht aus so vielen Komponenten, dass je nach Augenmerk das eine oder andere beurteilt wird.

JE: Wir arbeiten seit einiger Zeit beinahe alle – immerhin 16 (!) Gruppen - auch strukturell zusammen, mit der Alten Wäscherei am Steinhof gibt es beispielsweise ein gemeinsam genutztes Probenzentrum und es gibt auch einen regen Austausch. Mein Eindruck bisher war eher der, dass die Förderungen der Stadt gar nicht alle Potenziale erreichen, die es in Wien gibt, hier ist eine erfreulich lebendige Szene, die in der Regel aber doch eine deutliche Unterstützung braucht, um so sichtbar werden zu können, wie es gut ist. Ich bin mir sicher, dass mit der Menge der Aktivitäten auch immer das Publikum wächst, prinzipiell gibt es ja nicht nur in Corona-Zeiten viel Bedarf an Musik und Theater. Und es gibt Unermüdliche, die sogar ohne Geld arbeiten - man kann eigentlich nur staunen über den Elan in dieser Stadt.

4. Was sagen Sie zu der Aussage der Kulturstadträtin, Theater an der Wien und die Staatsoper unter Bogdan Roscic hätten ästhetisch Zeitgenossenschaft bewiesen und seien damit der Freien Szene eine Konkurrenz.

KT: Das verstehen wir als einen guten Witz. Aber: schön wäre es! Wir hoffen!

JE: Veronica Kaup-Hasler ist sehr umsichtig, diesmal sieht sie allerdings etwas, was uns irgendwie noch entgangen ist. Aber ob hoch subventioniertes Betriebs- und Superstartheater der einzig mögliche Weg ist, die Menschen aus ihren Häusern wieder um ein gemeinsames Thema zu versammeln und gesellschaftlich relevante Diskurse zu führen, weiss ich nicht. Auf keinen Fall stimmt es, dass es eine Konkurrenz wäre, wenn auch die Staatsoper sich wieder in ein normales Leben einfügen sollte und nicht mehr nur Tourismusbetrieb sein möchte. Fällt das Theater an der Wien jetzt übrigens auch unter Freie Szene? Jedenfalls gilt immer: je mehr es gibt, umso besser, desto weniger Stagnation, desto mehr Auseinandersetzung, desto mehr Leben und Publikum.

5. Was wäre strukturell hilfreich für freie Opernszene?

KT: Eine Struktur, die uns aus lauter Einzelkämpfern (zum Beispiel gegen hohe Mieten) zur Synergie hilft. Eine Art Tanzquartier. Oder eine sanfte Öffnung der bereits vorhandenen Strukturen (zB die vier Musiktheaterhäuser in Wien, aber auch die Dreispartenhäuser in Österreich) für die eine oder andere Form der Kooperation. Es gab ja einmal die Idee, dass zB die Kammeroper des Theaters an der Wien der Freien Szene offen stehen könnte.

JE: Wir haben mit den Kollegen die Erfahrung gemacht, dass alle sehr unterschiedlich arbeiten und ganz verschiedene ästhetische Konzepte verfolgen - die ich übrigens alle als zeitgenössisch bezeichnen würde, wenn etwas zeitgenössisch ist, dann doch hoffentlich der Verzicht auf das EINE Konzept - und trotzdem alle dieselben Dinge brauchen. Dazu gehören Geld, aber auch teilbare Dinge wie ein Haus oder Räume in der Stadt, die man noch bezahlen kann, technisches Equipment, Ausstattung, Zugang zu Material, das andernorts in Überfülle vorhanden ist, aber nicht genutzt wird, während allein die Lagerhaltung kostet, viele Dinge gehen gemeinsam besser, wie man die Öffentlichkeit erreicht, was auch immer, die Liste ist eher lang als kurz. Ich weiss, dass das ein sehr schwieriges Thema ist, aber vielleicht könnte man doch darüber nachdenken, Strukturen zu schaffen, die auch gemeinsam genutzt werden können, das muss nicht einmal innerhalb der vielleicht etwas überlebten Genregrenzen von Musiktheater oder Tanz oder was immer sein. Von solchen Strukturen könnten möglicherweise sogar Initiativen profitieren, die die finanzielle Unterstützung der Stadt sonst nicht erreicht. Aber in dieser Hinsicht müssen wir wohl noch einige Diskussionen führen.

pdf | Der Standard zur Situation der freien Opernszene 2021 in Wien