Falter 35/20, 25.08.2020, Miriam Damev im Interview mit Kristine Tornquist und Jury Everhartz (pdf)

Oper bleibt das größte Abenteuer | Kiosk | Die Angewandte | Lisa Kiss, Vorwort

Das sirene Operntheater hat sieben Kammeropern zum Thema Barmherzigkeit in Auftrag gegeben. Ein Gespräch über Glauben, Freiheit und Neue Musik in Bildern.

Vor 22 Jahren haben sich Kristine Tornquist und Jury Everhartz bei einem Musiktheaterprojekt kennengelernt und kurze Zeit später das sirene Operntheater gegründet. Seither zeigen sie jedes Jahr neue, politisch und gesellschaftlich relevante Opernproduktionen. Auch privat sind die beiden Künstler ein Paar. Zum Interview empfangen sie den Falter in ihrer wunderschönen Wohnung auf der Währinger Strasse. Auf den Fensterbänken wachsen Wein und Passionsblumen; blickt man hinaus, schaut man in den verwilderten Hof des Instituts für Anatomie. Auch sonst gibt es hier viel zu entdecken: eine kleine Orgel, die im Musikzimmer steht, oder ein erfundenes Instrument, das im Wohnzimmer von der Decke hängt. Es wird über der Schulter getragen, hat eine Tastatur und Federn, die, von Lautsprechern verstärkt, Science-Fiction-Musik produzieren. Tornquist ist zudem leidenschaftliche Sammlerin. Und so bevölkern bemalte Emaillekübel aus den 1920ern, Plastikgießkannen, Geschirr und anatomische Körperteilmodelle das Zuhause des Ehepaars – ebenso wie unzählige Bilder und Bücher. Das Gespräch findet in der Küche statt. Es gibt frischen Kaffee und Kuchen.

Falter: Ihr neues Kammeropernfestival in sieben Runden heißt „Die Verbesserung der Welt“. Thematisch kreisen die Stücke um die sieben Tugenden der Barmherzigkeit, die auch im Matthäus-Evangelium Erwähnung finden – als Gegenpol zu den sieben Todsünden. Glauben Sie an Gott?

Kristine Tornquist: Eigentlich muss man Atheist sein, um sich mit der Bibel neutral auseinandersetzen zu können. Die Barmherzigkeit ist eine schöne Idee, egal, ob man an Gott glaubt oder nicht. Die Tugend ist ein Konzept, das es in allen Kulturen gibt. Du kannst etwas Gutes tun, musst es aber nicht. Ich finde, das ist genau der Moment, wo sich der Mensch zeigt.

Jury Everhartz: Das ist eine hermeneutische Frage. Was heißt „glauben“? Wir stehen immer in einem bestimmten Kontext, aus dem heraus gewisse Narrative entstehen. Nach einer „Traviata“ fragt auch niemand, ob man alles glaubt, was man gerade gesehen hat. In dem Moment, wo es passiert, ist es real. So ist es auch mit allen anderen Geschichten. Entweder man steigt ein und ist ein Teil davon, oder man bleibt draußen.

Warum haben Sie sich ausgerechnet die Barmherzigkeit als Leitfaden für die Auftragsarbeiten gewählt?

Everhartz: Wir haben vor drei Jahren, während der türkis-blauen Regierung, mit der Arbeit an dem Projekt begonnen. Die Rhetorik wurde zunehmend schärfer, vor allem wieder einmal auf Kosten der Ärmsten. Das entspricht nicht unserer Sicht der Welt. Wir wollten der allgemeinen Verrohung etwas Positives entgegensetzen. Natürlich ist es auch missverständlich: Die Idee der Barmherzigkeit ist ja ein feudales Relikt aus einer patriarchalen Gesellschaft, wo sich die Mächtigen von oben herab den Armen zuwenden. Wir wollen eine gerechte Gesellschaft, die von unten nach oben organisiert ist und in der man diese Art der Barmherzigkeit nicht mehr braucht.

Viele finden, Oper sei museal. Machen Sie auch deshalb zeitgenössisches Musiktheater?

Everhartz: Darüber hat sich schon Karlheinz Stockhausen endlos Gedanken gemacht und wollte, ebenso wie Pierre Boulez, die Opernhäuser niederreißen. Dann wurden die beiden alt und wollten ihr eigenes Museum haben, an dem ja niemand rütteln soll. Heute muss ein Operndirektor Auslastungszahlen liefern, und das gelingt ihm, indem er das klassische Repertoire spielt. Wer täglich über 1000 Sitzplätze verkaufen muss, kann nicht einfach sagen: „Wir machen jetzt hier etwas Experimentelles.“ Das Opernmuseum hat durchaus seinen Platz, im Tourismus, in der Pädagogik und für die Selbstvergewisserung der letzten Reste einer bürgerlichen Gesellschaft. Das ist aber nicht unsere Aufgabe.

Tornquist: Ich glaube an die Oper als Medium, um Geschichten zu erzählen. Diese Idee ist nach dem Zweiten Weltkrieg verloren gegangen. Was jetzt im Musiktheater modern ist, ist die Dekonstruktion von Oper in Richtung performativer Kunst. Sie kommt ohne feste Rollen aus und es gibt keinen wirklichen Plot mehr. Wir haben uns von Anfang an vorgenommen, an der ursprünglichen Form der Oper und ihrer Produktionsweise festzuhalten und sie dafür mit neuen Inhalten zu füllen.

Warum gibt es keine eigene Spielstätte für die freie Opernszene, als Gegenpol zu den großen Repertoirehäusern wie der Staatsoper und der Volksoper?

Everhartz: Die hätte es in den 1990er-Jahren beinahe gegeben, wenn sich die freie Opernszene nicht so zerkracht hätte. In Wahrheit ist die freie Szene ziemlich dezentral. Wenn man alle in ein Haus steckt, entsteht automatisch wieder eine Hierarchie. An verschiedenen, weniger repräsentativen Orten zu spielen heißt ja auch, irgendwie näher am Leben zu sein.

Tornquist: Da bin ich anderer Meinung. Unser größtes Problem sind die steigenden Mieten der Aufführungsorte. Es gibt kaum noch Räume, die man sich mit dem Budget, das uns zur Verfügung steht, leisten kann. Insofern befürworte ich die Idee eines eigenen Hauses, das meinetwegen auch hierarchisch geführt werden soll. Denn wenn es die sogenannte freie Szene nicht mehr gibt, die an der Fortführung und Weiterentwicklung des Genres arbeitet, sind wir wieder bei dem vorher Gesagten von der Oper als Museum.

Es heißt, Oper sei zeitlos, weil es um zwischenmenschliche Beziehungen, Affekte und Geschichten geht, die uns bis heute beschäftigen.

Everhartz: Das ist ein Widerspruch in sich. Einerseits wäre gerade diese Zeitlosigkeit ein Argument, ständig Neues zu schreiben. Andererseits ist sie ausgerechnet der Grund dafür, das immer wieder dieselben Stücke gespielt werden. Es geht nicht um Inhalte, sondern um ein bestimmtes Ritual des Bürgertums, das sich – wie schon gesagt – seiner selbst vergewissern will. Auch der Wegfall des Politischen in der Oper ist ein Statement. Im politischen Theater der 1920er-Jahre zum Beispiel gab es immer eine Reibungsfläche zwischen dem Publikum und dem, was auf der Bühne passiert. Heute liegt die Reibungsfläche innerhalb des Betriebs, man führt damit eine ästhetische und keine politische Diskussion.

Tornquist: In der klassischen Oper steht man als Regisseur immer vor der Herausforderung, etwas zu zeigen, was es so noch nie gegeben hat, weil man natürlich versucht, sich von früheren Inszenierungen abzusetzen. Bei einer Uraufführung kann ich mich als Regisseurin ausschließlich auf das Stück konzentrieren. Ich möchte die Reibung wieder nach außen bringen. Die Oper soll sich wieder mit der Welt beschäftigen.

Der Neuen Musik wird immer wieder vorgeworfen, sie sei zu kopflastig, zu intellektuell. Taugt sie überhaupt dazu, viele Menschen zu erreichen?

Everhartz: Der größte Irrtum ist, zu denken, dass man dem Publikum nichts zumuten kann. Die Leute sind doch nicht blöd! Wir haben immer wieder erlebt, dass sich Menschen in unsere Opern verirrt haben und dann überrascht waren, wie gut sie sich unterhalten konnten. Neue Oper muss überhaupt nicht anstrengend sein. Wir wollen auch niemanden quälen. Natürlich muss man sich zunächst in einer fremden Sprache orientieren. In der Oper hilft uns dabei eine zweite Ebene, nämlich die Geschichte der Menschen, die auf der Bühne stehen. Man kann Neue Musik mittels Bildern viel besser vermitteln als im Konzert.

Sie nennen sich selbst „Weltverbesserer“. Man könnte Ihnen abgehobenes, elitäres Denken vorwerfen.

Everhartz: Ich denke, dass Künstler, Intellektuelle, Journalisten, Philosophen und die ganz Jungen die Avantgarde neuer Einsichten sind, wenn es um die Erneuerung der Gesellschaft geht. Aber es handelt sich um einen langsamen Prozess. Die 68er haben für die Emanzipation der Frau oder die Lockerungen der Sexualmoral viel getan. Trotzdem hat es bis in die 1980er- und sogar 1990er-Jahre gedauert, bis sich das in der Gesellschaft auch etabliert hat. Man darf nicht ungeduldig sein.

Tornquist: Vor 20 Jahren waren sich alle einig, dass der Kapitalismus ein Naturgesetz ist. Jetzt sind wir mitten im Hyperkapitalismus, sehen die Zerstörungen, und keiner weiß, wie man da wieder aussteigt. Es ist den meisten klar, dass wir mit diesem System nicht ewig weitermachen können.

Werden wir aus der gegenwärtigen Krise etwas lernen?

Everhartz: Da bin ich skeptisch. Aus der Finanzkrise haben wir auch keine weitreichenden Konsequenzen gezogen. Stattdessen leben wir in einem System, das noch schneller unterwegs ist als das Virus jetzt. Sobald es eine Impfung gibt, wird Corona kein großes Thema mehr sein, außer dem generellen Abstandhalten, was das Besitzbürgertum ja immer schon wollte.

Tornquist: Wir wissen gar nicht, wie gut es uns geht, weil es bei uns so lange keinen Krieg mehr gegeben hat. Bei aller Verschärfung der Debatte sollten die Politiker daran interessiert sein, Frieden zu halten. Das ist eines meiner Hauptthemen, und ich möchte die nächsten Stücke darüber schreiben.

Everhartz: Nicht der Frieden ist der Normalzustand, sondern der Krieg. Solange man den freien Diskurs nicht aktiv am Laufen hält, riskiert man langfristig automatisch kriegerische Auseinandersetzungen.

Wie setzen Sie Ihren Anspruch an eine bessere Welt im täglichen Leben um?

Everhartz: Wir bekommen 180.000 Euro Förderungen pro Jahr. Natürlich könnte es ein bisschen mehr sein, weil wir dann unsere Leute besser bezahlen könnten. Eigentlich sind wir damit aber zufrieden. Wir wollen keine Produktionsfirma sein, die Künstler bucht und Geld verwaltet. Wir wollen selber Künstler sein. Und wir wollen, dass unsere Arbeit allen gleichermaßen zugutekommen kann, deshalb bauen wir keine Barrieren durch hohe Eintrittspreise.

Everhartz: Wir bezahlen unsere Mitarbeiter in Bezug auf die Zeit, die sie aufwenden, und schauen darauf, dass alles halbwegs gerecht verteilt wird. Für unsere Produktionen nützen wir unser eigenes Equipment. Beim Bühnenbild achten wir darauf, dass wir saubere Materialien verwenden und möglichst keinen Müll hinterlassen. Wir machen keine Urlaube mit dem Flugzeug und besitzen auch kein Auto.

Everhartz: Wir reisen nicht, aber dafür machen wir Oper. Das ist nach 22 Jahren immer noch das größte Abenteuer.

Zur Person

Kristine Tornquist wurde 1965 in Graz geboren, hat an der Hochschule für angewandte Kunst Metallgestaltung studiert und eine Ausbildung zur Gold- und Silberschmiedin absolviert. Sie ist Gründerin der Künstlergruppe 31. Mai, des Theaters am Sofa und des sirene Operntheaters. Heute ist sie als Autorin, Librettistin und Regisseurin tätig.

Jury Everhartz wurde 1971 in Berlin geboren und lebt als Komponist, Organist, Dirigent und Kurator in Wien. Er studierte in Berlin und Wien Theologie, Philosophie, Musikwissenschaft, Kirchenmusik und Komposition. 2019 war er Artist in Residence beim Carinthischen Sommer.

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