Konzept zu einer nicht geschriebenen Oper über den Holocaust

Dokumentarische Arbeitsweisen scheinen in der Kunst zur Zeit eine Hochkonjunktur zu erleben, auch mancheVersuche, sich dem Thema des Holocaust mit den Mitteln der Oper zu nähern. Der methodischen Frage, ob dabei die Kunst historischer Wahrheit bedarf - um eine gewisse Unmittelbarkeit zu garantieren - oder ob andersherum die nackten Tatsachen immer eine Art von künstlicher Konstruktion benötigen, um überhaupt den Weg ins Gedächtnis zu bewältigen, will ich hier nicht nachgehen. Wichtiger scheint mir schon die Frage, wie zu verhindern sei, daß eine Dokumentation das Dokumentierte gerade nicht aus der Realität herausschneidet. Der Bruch 1945 ist ja so stark ins kollektive Gedächtnis geschrieben, daß es beinahe einem Voyeurismus nahekommt, sich in die Zeit der großen Verantwortungen, der eindeutigen Entscheidungen für oder gegen Gut und Böse, der deutlichen und konsequenten Fehler und Heldentaten, also in einen entschlußlosen Rausch zu versenken, in dem man immer von der richtigen Seite das Böse auf der anderen bestaunen kann. Das man eigentlich in sich selber trägt. Noch eine moralisierende, vorbildgebende Bearbeitung dieses Themas mit einer heimlichen Lust am Durchleben des “echten” Abenteuers im Gegensatz zur geschichtsfreieren, weniger Orientierung gebenden Gegenwart kann - vom künstlerischen Standpunkt aus betrachtet - nicht interessant sein. Überlegungen müssen wir wohl eher dort anstellen, wo noch nicht geklärt ist, in welcher inneren Verwandtschaft Faschismus und Moderne, Erfindung und Vernichtung des Wahnsinns, soziales Fortschrittsdenken und Machbarkeits- oder Verfügbarkeitswahn, Klassen- und Massenbewußtsein eigentlich zueinander stehen, auffällig scheinen sich heute ja beispielsweise außerhalb jeder moralischen Debatte (die der Praxis nur mehr nachhoppeln) manche Denkmuster der Artverbesserung leichtfertig, schick und geschichtsfrei verkaufsfertig zu wiederholen. Auch Parallelen von damaligem Umgang mit dem Wahnsinn (strikte Berührungsangst vor der Ansteckung und Infizierung des Volkskörpers) und dem heutigen damit, mit dem Wahnsinn oder etwa der Armut wären wahrscheinlich noch bedenkenswert. Weniger interessant die seltsam verschlungenen Reintegrationen nationalsozialistischer Verbrecher einschließlich der honneurs, mit denen die sozialistische Nachkriegsrepublik Avantgardetäter der Ärzteschaft ausstaffiert hat. Für eine "Dokumentaroper" haben sie bestenfalls episodische Bedeutung und sind wohl nicht von allgemeiner Wichtigkeit. Das ist aber gerade der Punkt, denn wirklich bedeutsam scheint mir nur die Überlegung, ob und wie die Mittel des Musiktheaters, die Methoden, die diese Form von sich aus mitbringt, dazu taugen, eine Katastrophe dem Vergessen vorzuenthalten und welches Gegenwartsbewußtsein sie dabei prägen, sprich: kann eine Oper eigentlich überhaupt irgendetwas dokumentieren - ohne er dabei zu verändern?

Oper ist vor allem eines: unmittelbares Erlebnis. Das Gegenteil davon wäre: Repräsentation. Anders: Miterleben oder Zuschauen. Noch anders: man lernt in der Oper nichts Neues, sondern erinnert sich da eigentlich an etwas. Indem die Oper Stationen einer Geschichte streift, beschäftigt sie sich eigentlich nur mit solchen Dingen, die nicht der Historie angehören, sondern dem, was in dieser "ewig" ist: Ein Zustand, eine Situation, eine Szene interessieren nur des- halb, weil da in einem Moment etwas steckt, was über diesen Moment hinausweist, also etwas persönliches in Erinnerung ruft, solange man der Szene zuschaut. Zuhört. Hier muß man unterscheiden: musikalisches Erlebnis ist entweder “falsch” - dann erinnert die Musik immer an etwas, wozu sie selbst allerdings nicht potent genug ist - oder “wahr” - dann ist aber der Moment gewissermaßen autistisch, dann will die Musik nicht von sich aus an etwas erinnern. Erst der Hörer tut es.

Man muß sich wieder trauen, das ernstzunehmen: Oper verwandelt eine Erzählung von weit Entferntem in sehr nahes Erlebnis. Natürlich bedeutet das, alles Dokumentarische in einer Dokumentaroper zu umgehen, a principio, wenn die Dokumentation eine sachliche sein soll. Eine Geschichte zu vertonen bedeutet, sie sozusagen zu wieder- holen, sie nochmals passieren zu lassen - und alles historisch oder objektiv Ereignishafte zu verunsachlichen. Also - mein Musiktheater: wenn gewartet, gelitten, vergessen, gestorben wird, dann ja, und dann leuchten die Sterne. Eben wegen der Nichteinmischung in historische Einmaligkeiten kommt man den Dingen so nah wie sonst nicht möglich. Man könnte deswegen sagen: die Oper ist die Kunst der Extreme, ein nicht überzeichnetes Sujet ist für diese Kunstform ungeeignet. Alles muß man hier konsequent stilisieren oder konsequent über- oder untertreiben, auch wenn das heißt: es gibt eine innere Verwandtschaft zwischen Oper und Zirkus. Emotionale Akrobatik ist das Pendant zur Busonischen Phantastik der "Luft vom anderen Planeten". Gar nicht überzeichnet, also unbrauchbar, ist aber das Vorhaben, einer irrealen Bühnenkunst dokumentarische, gar abhandelnde Leistung abzuverlangen. Nur: ist das Irreale das Erlebte. Das Erlebte ist das Wahre, in gewissem Sinn auch das historisch Wahrere, je überzeichneter der erlebte Moment, je irrealer, lächerlicher er eigentlich ist - desto mehr begreift man, was war; weil man begreift, was ist.

Das Musiktheater muß also anders an die Wirklichkeit heran, als indem es sie beweist. Wie ich schon übertrieben habe, muß es sie ja überhaupt erst schaffen. Diese Oper, deren Stoff ein historischer, geradliniger, deren Konzept aber ein überlagertes, gebogenes, wiederholtes ist, könnte formell Verschiedenes werden:ein ständig wiederholter Ausschnitt - pars pro toto - aus dem Leben, kontrastiert mit der Form des Ganzen (ABA ist ja eine Lebensform), es kann auch eine kleine Blindheit sein, was weiß ich. Nach welchem Muster geht es weiter, wie funktioniert das Ganze in sich selbst, wie schließt sich der Kreis - alles das sind Strukturen, die beispielsweise brauchbar für ein Opernkonzept wären. Möglich ist vielleicht nur die hermetische Abgeschlossenheit. Sturmpredigten oder Apelle moralischer Entrüstungen - Darstellungen historischer Katastrophen sind ja wohl nichts anderes - sind keine Opern, schließlich sind auf alle Revolutionen Spontinische Opern nachgefolgt, aber trotz Buffonistenstreit, Figaro oder allem Spohr und Meyerbeer hat noch keine eine Revolution ausgelöst. Zumindest tut sie es heute nicht mehr. Man kann den Stolz der Trotzigkeit feiern, aber Oper bleibt narzistische Feier, Huldigung oder manische Wiederholung.

Ich denke also gewissermassen von Anfang an aus der Partitur heraus. Die Idee von Kristine Tornquist und Jakob Scheid, eine Maschine in Gang zu setzen, kommt mir äußerst brauchbar vor. Zunächst schafft das Strukturen, die den musikalischen verwandt sind. Und irgendwie ja auch ein dramatisches procedere in sich tragen, also die etwas hilflose Choreographie der Handlung ersetzen. Darüberhinaus produziert sie einen Focus, der die "Dokumentation" in ein "Thema", also etwas, das dem Theater eine Richtung gibt, verwandelt. Wieviel leichter ist es gleich, mit Schuld und Unschuld, Unausweichlichkeit und Verantwortungen oder ähnlichen Dingen zu tun zu haben, die im Sand strukturelle Spuren hinterlassen, die aufzulesen dann schon viel mit Komposition zu tun hat. Also: die Maschine ist das Unausweichliche, die Voraussehbarkeit der Verwandlung von Opfern in Täter, von Tätern in Opfer.

Zum Beispiel.

Das ist aber nur die Hälfte. Für das Theater, für die Musik, für den Schein und Schimmer in der Kristallwelt des Strukturellen, brauchen wir, brauchen, brauchen unbedingt eine Seele. Diese läßt sich wieder nur schwer aus der Geschichte herauslocken, zumal dieser! Es soll ja nicht Hollywood sein, keine zynisch-ariose Nacherzählung schrecklichster Dinge mit Anteilnahme an irgendeinem Einzelschicksal, einem notwendigen Ablauf, dessen fatalen Ausgang man sowieso schon kennt. Sich am Schicksal abzuarbeiten, hier die ganz große Verantwortung zu plazieren, den Geist der "Geschichte" einzuatmen, sozusagen immer noch in Treitschkes Manier an der Kriegsschuldfrage zu laborieren - ist kleingeisternde Wirklichkeitsverweigerung. Erst recht eine Rede vom "beispielhaften" Versagen einer ganzen Generation. Geschichte ist hier - diesen Voyeurismus muß man, wie ich schon sagte, einmal zugeben - so erfreulich einfach. So schafft man bestenfalls ein moralisches Gartenhäuschen für die eigene Position. Ein Opferkind auf der Bühne, seiner Handlungsfähigkeiten beraubt, als Schlachtbanklamm, ist ein - wäre man an anteil- nehmender Biographie wirklich interessiert - lächerlich zweidimensionaler Schatten.

Besser ist: das Konzept muß sich an seiner eigenen Form orientieren. Schön wäre, wenn die Seele gleichsam von außen, als Blick auf das Geschehene, in die Geschichte hineinsickert. Die wiederum deshalb ruhig eine Bleistiftskizze sein darf. Stellen wir vor: Die Maschine funktioniert mit einiger Unerbittlichkeit, gleich, ob sie den sie bedienenden Menschen eine Chance läßt, sie am Laufen zu halten oder in den Lauf der Dinge einzugreifen. Bedeutet: Erfindung einer Polyphonie, die sich selbst immer von neuem anstößt, wo eines das andere bedingt. Bringt man das klanglich dem Menschen nahe, bräuchte man dort einen Haufen Celli, sagen wir der Symmetrie halber 12. Oder besser: Gamben. Baßgamben.

Und einen Sopran als Stimme des Täters, die sich vielleicht in einen Baß verwandelt? Von da weg erscheint jedenfalls das Gesetz, singt vom Prinzip und entfaltet Wirkung. Anfänglich großspurige Intervalle werden nach und nach von immer kleineren gefüllt, bis in mikrotonale Bereiche hinein. Abnahme der Luft, zunehmende Härte. Im Vordergrund bleibt die Logik der Maschine, die Geschichte der Spiegelgrundereignisse ist ein zufälliges Produkt des Apparates.

Die Seele der Opfer, die nichts tun und auf der Bühne herumgefahren werden, sitzt an den vier Ecken des Zuschauerraumes: Allegorien von vier historischen Figuren, die in verzweifelter Betrachtung der Zusammenhänge vielleicht selbst dem Wahnsinn nahegekommen sind, jedenfalls sich einer ähnlichen Hilflosigkeit nähern wie der ihrer Autonomie beraubten Opfer der nazistischen Verbrechensmaschine. Aber darin eigentlich ja autonom bleiben! Brauchbar: Robert Walser, Virginia Woolf, Unica Zürn, vielleicht der schreckliche Munch, ein geisteskranker Psychiater. Wenn dann etwas Stimmung wäre wie in einem Schulhaus - alle säßen in gleicher Blickrichtung, viel zu kleine Schultische, kleine Schreibtischlampe für die Einsamkeit, alle im gleichen weißen Anzug mit Hut. Oder anders. Alt oder Tenor. Jedem ein Instrument (Bläser) als Schatten dabei, mit dem sie sich - wie mit ihrer eigenen Seele - unterhalten. Echopolyphonie. Ein auratischer Block, der über allem ruhig liegt und beobachtet. Eine reine, aber in sich voneinander unabhängige Homophonie, die von den Krakententakeln des Gesetzes beleckt und gesucht wird. Die Welt der Metaphernsprache.

Jury Everhartz