Der Falter, 18.10.2017, Heinz Rögl (Ankündigung)

Telegraphenamt Mondschein
Das sirene Operntheater begibt sich auf eine Reise zur Schauspielmusik des französischen Komponisten Jean Barraqué.

Jean Barraqué, 1973 mit 45 Jahren verstorben, war serieller Komponist, Schüler von Jean Langlais und Olivier Messiaen und zeitweiliger Gefährte von Michael Foucault. Im englischen und französischen Sprachraum ist er weit bekannter als im deutschen. Sein schmales Oeuvre erweitert sich nun mit dieser Uraufführung durch das sirene Operntheater. "Die Reise" kreist um Barraqués "Musique de scène" von 1958/59 zu sechs ebenfalls in den 50er-Jahren verfassten, unveröffentlicht gebliebenen Theaterminiaturen von Jean Thibaudeau, einem Nouveau-Roman-Autor, der auch Essayist, Übersetzer von Italo Calvino, Julio Cortázar, Edoardo Sanguineti und Dramatiker war. Barraqué schrieb dann unter dem Titel "... au-delà du hasard" die "Musique de scène" völlig um und erweiterte sie stark. Intendant Bernhard Günther hatte den Wunsch, das Stück bei Wien Modern realisieren zu lassen. Es spielt in der den Bewohnern des siebenten Bezirks wohlbekannten ehemaligen Filiale der Österreichischen Post, Ecke Mondscheingasse/Zollergasse. Wie kam es zur Wahl ausgerechnet dieses Ortes?

sirene-Produktionsleiter Jury Everhartz erklärt: "Um 1870, also noch in der Monarchie, war hier ein Telegraphenamt, eine der vier Anstalten des k.u.k. Staatstelephons. In Wien gab es damals ganz wenige Telephone. Die Haupttelephoncentrale war bei der Börse, Centrale III war die Mondscheingasse. Die Post befand sich im Erdgeschoss, früher einmal war der Paketschalter im ersten Stock, aber es gibt noch zwei weitere Etagen, und in denen lag die Telephonzentrale." Kristine Tornquist ergänzt: "Dann gibt es den Turm, den hat Architekt Eugen Fassbender wunderschön gemacht, dort gibt es zwei Uhren mit einem mechanischen Uhrwerk."

Kann man dieses Musiktheater als Oper bezeichnen? Es sieht Sprechstimmen für die Schauspieltexte von Jean Thibaudeau vor, ansonsten ist es ein reines Instrumentalwerk und ist von einer linearen Dramaturgie weit entfernt. Dirigent Francois-Pierre Descamps erläutert die Besetzung des 19-köpfigen Ensembles mit Bläsern, Glockenspiel, Vibrafon, Xylofon, Celesta, Klavier und sehr viel anderem Schlagzeug: "Es ist eine sehr komplizierte Musik. Keine Elektronik, aber sehr fein und abstrakt." In einer Szene spielt eine Solo-Violine die Sonate pour violon seul, ein weiteres Werk von Jean Barraqué. Dazu kommt noch die Etüde für Tonband.

Insgesamt gibt es acht Schauspieler. Regisseurin und Dramaturgin Helga Utz erklärt, wie das Stück entstanden ist: "Jean Barraqué suchte nach einer innovativen Form und versuchte, mit seinem Freund Thibaudeau ein Stück zu schreiben. Sie dachten an eine Aufführung des Regisseurs und Theoretikers Jacques Polieri, der zusammen mit einigen Malern die Musik in Bilder umsetzen wollte. Es sollte eine Art Gesamtkunstwerk entstehen. Die Musik sollte nicht den Text interpretieren, vielmehr sollte beides in einer komplizierten Weise aufeinander bezogen sein. Es gibt nun ein Textkonvolut und ein Musikkonvolut."

Das Manuskript der "Musique de scène" wurde 2017 vom Musikwissenschaftler Laurent Feneyrou in der französischen Nationalbibliothek wieder entdeckt. Es hat 36 Seiten und wird vom Bärenreiter Verlag für eine musikalische Wiedergabe neu herausgegeben, trotz völligen Fehlens dynamischer Angaben, die aber aus der Partitur von "... au-delà du hasard" rekonstruiert werden können. sirene erhielt die Musik über den Bärenreiter Verlag.

"Man muss bedenken, wir haben alles zitzerlweise gekriegt", erzählt Helga Utz, "die Kompositionen, die Handschriften, viel später noch die französischen Texte. Die mussten wir erst übersetzen, dann kam erst die fertige Partitur. Dadurch haben wir ständig umgebaut. Wir versuchen das aufeinander zu beziehen, wie wir das verstehen, aber ganz genau rekonstruieren kann man das natürlich nicht. Das war und ist ein Abenteuer, eine tolle Reise für sich. Naturalistisch wird die Inszenierung nicht, das Stück hat eine stark absurdistische Note. Weniger des Existenzialismus wegen, der natürlich auch drinnen ist. als vielmehr wegen des Pariser Geists der 50er-Jahre".

Auch Kristine Tornquist gibt sich geheimnisvoll: "Wie es wird, kann man noch nicht erzählen. Man muss auch noch die Behörden fragen, welche Türen man hier im Haus benützen darf, welche zu eng sind, wie viel Publikum überhaupt in die Räume hineingeht. Nur so viel: Es gibt zwei Etagen, das Publikum kann sich bewegen. Das Stück trägt schliesslich den Titel "Die Reise", wie auch das gesamte Projekt für die Mitarbeiter des sirene Operntheaters eine Reise war und ist."

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