mica news, 13. Jänner 2014, Lena Dražić

Vom Nutzen der Ortlosigkeit – die freien Musiktheater zwischen Aufbruch und Tradition

Wo die etablierten Opernhäuser auslassen, springt die freie Szene ein. Mit wenig Geld, dafür umso mehr Einfallsreichtum und Engagement ermöglicht sie Musiktheatererfahrungen, die ästhetisch wie formal neue Wege beschreiten und sich der brennenden Probleme der Gegenwart auf künstlerisch innovative Weise annehmen.

Dabei erweist sich gerade die scheinbare Not der „Ortlosigkeit“ bei näherer Betrachtung als vielleicht größte Tugend der freien, also nicht an fixe Spielstätten gebundenen heimischen Opernszene, bringt doch die Heimatlosigkeit die Notwendigkeit mit sich, neue Orte theatraler Begegnungen zu erobern. Anstatt, wie es an etablierten Spielstätten zumeist geschieht, das immergleiche Repertoire wiederzukäuen, werden vielerorts in der Stadt neue Wege beschritten: an kleinen Bühnen wie dem Off Theater oder dem Theater Nestroyhof, in alten Fabrikshallen – oder gar in S-Bahn-Zügen und Schwimmbädern.

Indem sich Musiktheater an Stätten begibt, die offen für alternative Zuschreibungen sind, tritt es zugleich auf neue Weise mit den BewohnerInnen der Stadt in Kontakt. „Wir besitzen keine Immobilie, weil Theater nicht immobil sein soll“, heißt es programmatisch auf der Website von netzzeit, einer der ältesten Plattformen für freies Musiktheater in Wien. Seit 1984 ermöglichen Nora und Michael Scheidl musiktheatrale Erfahrungen abseits ausgetretener Pfade. Seit 2004 veranstaltet das KünstlerInnenpaar in ein- bis zweijährigem Abstand das Festival „Out of Control“ – wohlgemerkt das einzige österreichische Festival, das ausschließlich dem zeitgenössischen Musiktheaterschaffen gewidmet ist. Für breite Aufmerksamkeit sorgte die Initiative mit der vielfach wiederholten Veranstaltung Symposion, die nach dem Vorbild des antiken Rituals auf ein ganzheitliches Erlebnis aus Musik, Speis und Trank abzielt.

Statt wie üblich in einer starren, oftmals unbequemen Sitzhaltung gefangen und zum Stillhalten verdammt zu sein, lagert das Publikum dabei auf bequemen Futons und lauscht dem Spiel des Klangforum Wien, begleitet von den wahrnehmungsverändernden Auswirkungen kontrollierten Alkoholkonsums. Wenn auch nicht Musiktheater im engeren Sinn, strebt das Symposion doch nach einer grenzüberschreitenden Erfahrung abseits der Dressur des Konzertrituals. Ähnlich funktionierte auch die Veranstaltung „Oskar Serti geht ins Konzert – warum?“, in dem die MusikerInnen des Klangforums dem Publikum Episoden aus dem Leben des fiktiven ungarischen Dichters und Musikliebhabers gleichen Namens anvertrauten, wäh-rend das gesamte Konzerthaus mit zeitgenössischer Musik bespielt wurde. Im Rahmen von „Out of Control“ zeigte netzzeit 2013 das spektakuläre, für die Münchner Biennale 2008 entstandene Musiktheaterprojekt Amazonas, das dem kolonialen Blick auf die BewohnerInnen Amazoniens die Perspektive indigener Schamanen entgegensetzt.

Um die sozialen Verhältnisse in Zeiten der Globalisierung geht es auch in den Projekten von progetto semiserio. Ursprünglich vor allem im Bereich Barockmusik tätig, hat sich die Initiative unter der Leitung von Georg Steker zu einer treibenden Kraft in der musikalisch-theatralischen Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitisch brisanten Fragestellungen entwickelt. Anhand von zwei Produktionen war das heuer zu überprüfen: Im Rahmen der Festwochen-Reihe „into the city“ griff Die Ballade von El Muerto das populäre Genre der narco corridos auf, mit welchen in Mexiko die Heldentaten von Auftragskillern und Drogendealern besungen werden. In Gates wiederum, einer Koproduktion mit den Weltmusiktagen der IGNM, stellen vier Komponisten in Form kurzer Arbeiten die Frage nach der sozialen Durchlässigkeit unserer Gesellschaft.

Es ist kein Zufall, dass die Kombination von barockem und aktuellem Musiktheater häufiger auftritt – schließlich wurde sowohl die vorklassische als auch die zeitgenössische Musiktheaterproduktion von den großen Bühnen lange Zeit links liegen gelassen. In beiden Bereichen hat die 1995 von Huw Rhys James und Anna-Maria Birnbauer gegründete Musikwerkstatt Wien Pionierarbeit geleistet: 2001/2002 brachte sie mit Orlando und Tamerlano als erste Gruppe in der österreichischen Hauptstadt eigene Produktionen von Händel-Opern heraus. Im Bereich der zeitgenössischen Musik wiederum trägt die Kompanie dem Phänomen der Globalisierung Rechnung, indem sie u. a. Werke von KomponistInnen afroamerikanischer, indischer oder israelischer Herkunft auf die Bühne bringt. Zuletzt realisierte sie 2012 mit Miss Donnithorne’s Maggot von Peter Maxwell Davies und Sucktion aus der Feder der Amerikanerin Anne LeBaron in der Kammeroper zwei Einakter, die sich auf tragikomische Weise mit dem Schicksal verlassener Frauen auseinandersetzen.

Altes mit Neuem koppelt auch das Teatro Barocco mit Sitz im Stift Altenburg, das neben österreichischen Opernraritäten aus dem 18. Jahrhundert auch Zeitgenössisches präsentiert und damit gar den altehrwürdigen Musikverein eroberte: Dort ging soeben die Erstaufführung des Musiktheaters The Original Chinese Conjuror von dem chinesisch-britischen Kom-ponisten Raymond Yiu (Regie: Bernd Roger Bienert) über die Bühne. Präsentiert wurde damit ein Beispiel für eine spielerisch-zitatenreiche, durch Jazz und Vaudeville inspirierte Spiel-art postmodernen Musiktheaters, die hierzulande eher wenig Beachtung findet, im englischen Sprachraum jedoch großes Ansehen genießt.

Verglichen mit dem Teatro Barocco, das erst im vergangenen Jahr das Licht der Welt erblickte, ist die Neue Oper Wien mit einem Alter von über 20 Jahren bereits ein Traditionsunternehmen. Die Gruppe unter der künstlerischen Leitung von Walter Kobéra setzt nicht nur auf Allerneuestes, sondern auch auf die Pflege der klassischen Moderne, und stellt damit ein Gegengewicht zu den etablierten Opernbühnen dar, auf denen das Musiktheater des 20. Jahrhunderts zumeist durch Abwesenheit glänzt. Mit szenischen Erstaufführungen von Brittens Billy Budd und Lachenmanns Mädchen mit den Schwefelhölzern setzte die Gruppe Trends im hiesigen Musikbetrieb. Als die Salzburger Festspiele und Wien Modern Friedrich Cerha anlässlich seines 85. Geburtstags einen Schwerpunkt widmeten, war es die Neue Oper Wien, die mit Baal als einziger österreichischer Opernbetrieb ein szenisches Werk des Jubilars zur Aufführung brachte. Zuletzt realisierte die Kompanie im Rahmen des Festivals Osterklang zwei einaktige „Kirchenparabeln“ von Benjamin Britten auf szenisch wie musikalisch mustergültige Weise.

Wie die Neue Oper Wien gibt sich auch die Wiener Taschenoper im besten Sinne traditionsbewusst und widmet sich den Klassikern der Neuen Musik, die im konventionellen Repertoirebetrieb ein klägliches Schattendasein fristen. Doch gäbe es keine Klassiker, wenn nicht irgendwann jemand Neues riskiert hätte – und so arbeitet die Taschenoper seit bald 15 Jahren an der Erweiterung des Repertoires deutlich über die gängigen Grenzen hinaus. Im Juli 2013 präsentierte das kleine, aber feine Opernunternehmen die Wiederaufnahme von Michaels Reise, einem Ausschnitt aus Stockhausens 29stündigem Gesamtkunstwerk Licht. Zudem stellt sich die Kompanie ab November 2013 mit der Produktion Der kleine Harlekin der Herausforderung, auch den Jüngsten einen Zugang zum Universum der zeitgenössischen Musik zu ermöglichen.

Während sich Ensembles wie die Taschenoper oder die Neue Oper Wien um die Realisierung und Vermittlung bereits bestehender Werke verdient machen, erschaffen andere Gruppen genuine Einheiten aus Text, Musik und Szene, ohne auf eine vorgegebene Partitur Bezug zu nehmen. So das 1999 gegründete Neue Wiener Musiktheater, das etwa mit der Produktion Die Reise nach Alt-Mamajestie oder Der beste Witz ist Czernowitz der versunkenen, multikulturellen Welt der Bukowina ein liebevoll augenzwinkerndes Denkmal setzte. Der ganzheitliche Zugang seines künstlerischen Leiters Alexander Kukelka bringt es mit sich, dass dieser meist die Funktionen des Komponisten, Drehbuchautors und Regisseurs in einer Hand vereinigt und dabei häufig auch noch vom Klavier aus für die musikalische Gesamtleitung sorgt. Dass Kukelka neben der Theaterarbeit auch Filmmusik komponiert und in Form zahlreicher Nestroy-Vertonungen die Wiener Singspieltradition fortschreibt, ist symptomatisch für einen Zugang zum Musiktheater fernab einer sauberen Trennung zwischen „E“ und „U“, zwischen „angewandter“ und „absoluter“ Musik.

Auch die Gruppe ZOON Musiktheater nimmt keine fertigen Werke als Ausgangspunkt, sondern konkrete Themen von zumeist unmittelbarer zeitgeschichtlicher und politischer Brisanz. Zur musikalischen Illustration greift die Initiative unter der Leitung von Thomas Desi dabei häufig auf bereits bestehende Musik zurück, die mit der erzählten Geschichte in einem assoziativen Zusammenhang steht. So zieht Das dritte Reich des Traumes, das im Juni 2013 Premiere hatte, Wagners Rienzi und Mozarts Zauberflöte als drastisches Sinnbild für die Opernhaftigkeit des nationalsozialistischen Größenwahns heran.

Eine der radikalsten unter den freien Gruppen ist Oper unterwegs. 2009 von Helga Utz gegründet, treibt die Unternehmung eines der Grundprinzipien der freien Szene auf die Spitze: nämlich gerade nicht jene Kulturinstitutionen zu bespielen, welche die „Kultur“ fein säuberlich vom „Leben“ scheiden, sondern den öffentliche Raum, wodurch das Ereignis unmittelbar in die Lebenswelt der RezipientInnen eingreift. Eine solche Stätte der Begegnung kann beispielsweise ein Schwimmbad sein wie bei der Produktion Flaschenpost, einer Umsetzung von Georges Aperghis’ experimenteller Vokalpartitur Récitation, oder eine S-Bahn-Garnitur wie in der Bachmann-Bearbeitung Undine geht mit Musik von Olga Neuwirth.

Während Oper unterwegs auf eine konsequente Befragung unserer heutigen Lebensumstände abzielt, setzt das sirene Operntheater in doppelter Hinsicht kleiner an – einmal im übertragenen Sinn, haben Jury Everhartz und Kristine Tornquist doch nicht die Neuerfindung des Rades im Sinn, sondern eine Rückbesinnung auf die unterhaltende Funktion des Musiktheaters. Andererseits aber auch im Wortsinn, wird unter der Bezeichnung „Operellen“ doch gleich eine ganze Reihe von Kurzopern am Stück präsentiert. Auch die Kammeroper MarieLuise (Musik: Gernot Schedlberger), mit der die Kompanie im Jänner 2013 das Kabelwerk bespielte, begegnete den Mythologisierungstendenzen im Opernbetrieb mit ironischen Brechungen. Der Erfolg dieses Konzepts lässt sich daran ablesen, dass sirene im November 2013 mit der Produktion GATES / Gäste! bei den Weltmusiktagen der IGNM vertreten ist.

Ebenfalls der kleinen Form verschrieben hat sich die Initiative MuPATh, die 2011 mit Vogel Herzog Idiot ihr erstes eigenes Projekt realisierte. In Zusammenarbeit mit sirene und dem Theater an der Wien präsentierte die junge Produktionsplattform drei Mini-Opern, in denen Bassbariton und Mupath-Mitinitiator Rupert Bergmann seine komödiantischen Fähigkeiten voll ausspielen konnte.

Ein starkes Lebenszeichen setzten die unabhängigen Wiener Musiktheater im September 2012 mit der Veranstaltung „Die 13“. An zwei Abenden präsentierten 13 freie Gruppen in der Ankerbrotfabrik eine Auswahl ihres aktuellen Schaffens und bewiesen damit die Vielfalt und Vitalität der Szene abseits fixer Spielorte und Strukturen.

Mit dabei war auch das Ensemble Phace, das ursprünglich als reines Instrumentalensemble gegründet wurde und erst allmählich den Weg zum Musiktheater fand. Phace zählt mittlerweile zu den bedeutendsten österreichischen Gruppen im Bereich der Neuen Musik und kann auf zahlreiche Werkaufträge sowie einen eigenen Zyklus im Konzerthaus verweisen. In den letzten Jahren wurden die Aktivitäten des Klangkörpers mehr und mehr vom Aspekt des Spartenübergreifenden bestimmt. Anstatt sich auf die Wiedergabe instrumentaler Kompositionen innerhalb des traditionellen Konzertsettings zu beschränken, nutzt das Ensemble zunehmend die medialen Möglichkeiten zur elektronischen Klangerzeugung sowie zur Integration filmischer und theatraler Elemente.

Wie dies vor sich geht, war etwa am 24. Mai im Rahmen einer Koproduktion mit dem Kabinetttheater unter dem Titel „Kantrimiusik“ im Konzerthaus zu sehen. Dabei ging es aufs Neue um die Frage, wie die Verbindung zwischen Musik und Theater beschaffen ist oder beschaffen sein könnte. In den großen Opernhäusern, die unbeirrt an ihrem Kernrepertoire festhalten, scheint sie sich von selbst zu beantworten. Doch abseits davon verschwimmen die Grenzen zwischen Oper und Varieté, szenischem Konzert und Installation, musikalisch begleitetem Erzähltheater und multimedialem Happening.

Daher bleibt die Begegnung von Musik und Theater jenseits etablierter Spielstätten ein Spannungsfeld, das ständiger Veränderung unterworfen ist und den fruchtbaren Boden unerschöpflicher Erkundungen und Auseinandersetzungen bildet.

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